Was sollen SchülerInnen lernen?

Ergebnisse der AOL-Umfrage

Manfred Huth / Christoph-Joachim Schröder

In: Manfred Büttner (Hg.): Neue Lerninhalte für eine neue Schule. Neuwied / Berlin: Luchterhand Verlag 1992. S. 90-107.

1. Der Rahmen der Befragung

Die AOL (Arbeitsgruppe Oberkircher Lehrmittel) ist KollegInnen besonders von Publikationen her bekannt. Denn ihr Hauptziel ist eine Veränderung der Schulwirklichkeit durch Unterrichtshilfen und Materialien. Zunächst waren es ganz einfach Defizite, z. B. kaum vorhandene Unterrichtshilfen bei neu eingeführten Fächern (Arbeitslehre), bei aktuellen Problemen (8.Mai, Ökologie) oder auch bei neuen Unterrichtsformen (Projektunterricht, Freiarbeit), welche die Erarbeitung von alternativen Materialien anregten. Doch im Laufe der Jahre entstand durch Diskussionen und gemeinsam durchgeführte Projekte der Vereinsmitglieder ein didaktisches Selbstverständnis, das in die Konzeption mit dem Titel "Hedonistische Endzeitdidaktik" eingemündet ist. Sie versucht als didaktisches Komplement zu den erfreulichen methodischen Veränderungen der Schulstubenwirklichkeit (Freiarbeit, handelndes Lernen, Community Education...) eine historisch angemessene Antwort auf die Frage "Was sollen SchülerInnen lernen?" Damit nimmt sie eine Fragestellung auf, die seit den Hessischen Rahmenrichtlinien kaum mehr offensiv gestellt worden ist. Kurz gefaßt lautet die Antwort des hedonistischen Ansatzes auf diese Frage:
SchülerInnen sollen die Epochenprobleme durchdringen lernen und an ihrer Lösung aktiv mitarbeiten wollen (Endzeitaspekt). Deshalb sollen sie zugleich lernen, wie heute ein lebenswertes Leben als Alternative zum Maloche-Konsum-Zusammenhang verwirklicht werden kann (hedonistischer Aspekt).
Welche konkreten Konsequenzen dies für die Lerninhalte hat, wird in sogenannten "AOL-Werkstätten" (Werkstatt "Arbeitslehre", Werkstatt "Ästhetik", Werkstatt "Naturwissenschaften", Werkstatt "Geschichte")erarbeitet.(Anm. 1)
Um nun nicht nur theoretisch und in der LehrerInnenperspektive zu bleiben, hat die AOL eine Befragungsaktion "Was wollen SchülerInnen lernen?" durchgeführt. Sie war angelegt als eine empirische Kontrolle der bildungstheoretischen Position, die unsere praktische Erarbeitung von Unterrichtsalternativen leitet. Welche Forderungen stellen SchülerInnen eigentlich an die Schule? Kritisieren Sie dieselben Fehler im Bildungssystem? Welche Verbesserungsvorschläge machen sie als Betroffene und somit intime KennerInnen des Schulbetriebes?
Da die bislang vorliegenden Untersuchungen zur Schulzufriedenheit (Anm. 2) nicht gezielt auf Lerngegenstände und Unterrichtsinhalte ausgerichtet sind, haben wir uns auf vier Fragen konzentriert:

  1. Welche Themen und Themenbereiche der einzelnen Fächer sind überflüssig und warum?
  2. Sollte man ganze Schulfächer abschaffen? Welche und warum?
  3. Welche für euch wichtigen und interessanten Themen kommen im Unterricht wenig oder gar nicht vor?
  4. Habt ihr Vorschläge für die Einführung neuer Schulfächer?

Die Fragen wurden bundesweit in SchülerInnenzeitungen und Jugendzeitschriften veröffentlicht (Anm. 3) und wir haben ungefähr 200, teilweise sehr ausführliche Zuschriften erhalten. Die Mehrzahl der BefragungsteilnehmerInnen kommt aus der Sek I, wenige aus der gymnasialen Oberstufe und wenige aus der Orientierungstufe. Allerdings stimmen die BriefautorInnen in den Hauptpunkten ihrer Kritik weitgehend überein, unabhängig von der Schulform (Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Gesamtschule) und unabhängig vom Alter. Lediglich das Problem des Notendrucks und die Frage der Orientierung auf das Arbeitsleben hin erhalten mit steigendem Alter zunehmendes Gewicht.(Anm. 4)

"Ich hoffe, daß Sie bei den Leuten, die etwas daran ändern können (bezogen auf Unterrichtsinhalte), z. B. Kultusministern mit Ihrer Aktion Gehör finden werden. Denn wenn `Schule' nicht auf Stimmen der Schüler hört, veraltet sie und das wäre doch wohl nicht so positiv, wenn man die sich ständig verändernde Jugend betrachtet." (Ulrike, 13. Klasse, Gymnasium)

2. Grundaspekte der Lehrplankritik

2.1. Lernverbote

Jede Rückbesinnung auf die eigene Schulzeit bei Erwachsenen, etwa auf einem Klassentreffen fünfundzwanzig Jahre nach überstandenem Abitur fördert die einhellige, kopfschüttelnde Einschätzung zutage, man sei - im Hinblick auf die berufliche Karriere - mit unglaublich viel überflüssigem Zeug vollgestopft worden. Aber - wiederum im Hinblick auf die berufliche Karriere - geschadet habe dies auch nichts.
Man könnte aus dieser Einschätzung den Schluß ziehen, daß es wahrscheinlich in der Schule gar nicht auf die Lerngegenstände ankomme. Womöglich nur aufs Denkenlernen bei beliebigen Denkinhalten, so daß die Frage, welche Schulfächer sinnvollerweise das Curriculum ausmachen und wie sie verantwortlich gefüllt werden, gerne vernachlässigt werden kann. Allenfalls sei der Lehrplan angesichts der Belastung unserer SchülerInnen quantitativ zu befragen nach einer möglichen Reduzierung der Stoffülle.
Die SchülerInnen selbst sind da aber unerbittlicher und auch präziser. Sie wissen, daß die ihnen verordnete Auswahl der Stoffe und Fragestellungen nicht nach dem Muster der Wahlakte eines Warenhauseinkaufsbummels verläuft, sondern eine Vorzugswahl ist. Wer das sich ein Thema bzw. eine Fragestellung zur geistigen Bearbeitung wählt, setzt andere Themen bzw. Fragestellungen hintan:
"Ich habe gelernt, wie man imaginäre Kreise in die komplexe Schreibweise umformuliert und daß Stalins Vater Schuster war; aber niemand hat mit erzählt, was alles einmal auf mich zukommen könnte, was es alles für Berufe gibt, wie unser soziales Netz, unser Bank- und Rechtswesen ansatzweise funktionieren. Sobald wir uns von Mama, Papa und Onkel Lehrer freiwillig oder unfreiwillig trennen, kommen all diese Dinge auf uns zu, und so manch einer steht vorm Leben wie "Ox vor'm Berch". Naja,mit kleinen Umwegen, Hindernissen und eventuellen Abstürzen werden wir diesen "Berch" wohl alle schaffen. Es ärgert mich nur manchmal, wie oft ich in der Schule doch einfach nur die Stunden abgesessen habe und male mir aus, was ich in der wertvollen Zeit alles hätte tun und lernen können." (Ulrike, 13. Klasse, Gymnasium).
Es ist die Tatsache der begrenzten Zeit, welche die Lage der Vorzugswahl entstehen läßt und damit eigentlich die Nötigung, mit größter Sorgsamkeit und Verantwortungsbewußtsein das zu Lernende zu bestimmen. Denn Curricula werden von der Staatsmacht verordnet, d. h. unter Sanktionen jungen Menschen aufgezwungen.
Hermann Giesecke hat für diesen Vorgang den zunächst befremdenden Ausdruck "Lernverbote" geprägt (Anm. 5), der jedoch die Wahrheit ans Licht bringt: Wer einen bestimmten Lerninhalt auswählt, erteilt Lernverbote für andere mögliche.
"Man kann sich wirklich nicht vorstellen, alles später mal wirklich brauchen und wissen zu müssen. Z. B. Biologie: Ist es denn wirklich wichtig zu wissen, aus welchen `Stoffen' der Chitinpanzer der Insekten besteht? Oder wie die Hyphen eines Pilzes aufgebaut sind? Doch wohl wirklich nur für Leute, die später sowieso Biologie studieren, oder? Es fehlt das Thema `Umwelt'!!! Selbst in Bio haben wir im Wesentlichen über Umweltzerstörung und Umweltschutz nicht geredet. Natürlich ist (oder sollte zumindest!) jeder über dieses aktuelle Thema informiert (sein), aber in der Schule könnte man sicherlich viele (auch unabsichtliche) Umweltsünder `auf den richtigen Pfad' führen. Auch sollten Arbeitsgruppen geschaffen werden, die Aktionen machen (z. B. Unterschriften sammeln, Tips bezüglich Umweltschutz geben, Geld sammeln für Umweltorganisationen,...) Solche Themen fehlen jedenfalls an unserer Schule (fast) völlig. Man sollte ein eigenes Fach einführen, das dies alles beinhaltet, weil wir, die Schülergeneration, mit diesem Thema konfrontiert sein werden und uns damit auseinanderzusetzen bzw. "wieder gutzumachen" haben. So etwas sollte KEINESFALLS fehlen." (Nicole, 9. Klasse, Gymnasium).
Der Terminus "Lernverbot" ist bei der Beurteilung von Curricula deshalb so nützlich, weil er uns die Wahrheit drastisch vor Augen führt - an der Schule, von der Nicole berichtet, wird Lernverbot für das Thema "Umweltschutz" erteilt.

2.2. Grundwissensbestände

Man kann sich bei einer kritischen Bestandsaufnahme aktueller Lehrplanwirklichkeit natürlich fragen, ob SchülerInnen überhaupt den Überblick haben. Können Sie als Lernende überhaupt die Relevanz der Grundlagen beurteilen? Müssen sie sich nicht vielmehr damit begnügen, darauf zu vertrauen, daß ihnen später vom Ganzen her der Sinn der elementaren Lernanstrengungen aufgeht?
Dieses Ganze, das angeblich am Ende des Lehrganges, der Schulzeit oder gar erst im Berufsleben dem Auswendiglernen von Grundlagen einen ordnenden Zusammenhang verleihen soll, wird jedoch nur in den seltensten Fällen erfahren:
"Da arbeitet sich z. B. ein von mir ansonsten sehr geschätzter Geschichtslehrer bis in die Details des alten Griechenlandes hoch, anstatt mehr Platz für aktuelle Themen zu lassen. In meinem gesamten Unterricht wurden sehr selten aktuelle Themen angesprochen, stattdessen erzählte mein Erde-Lehrer von den Inkakulturen im heutigen Entwicklungsland Peru - denn Grundwissen muß sein, um aktuelle Probleme zu verstehen. So weit, so gut, wenn dann die aktuellen Probleme nicht vor Sonnenstandsberechnungen hätten zurückstecken müssen. So sollte ich dann, falls ich es mir gemerkt hätte, die Geschichte der peruanischen Urvölker können. Probleme, wie z. B. die Verschuldung Perus oder bei den Entwicklungsländer allgemein, sind mir dagegen nicht so geläufig." (Jens, 13. Klasse, Gymnasium).
Was im Fach Geschichte die Gestalt hat, nach extensiver Beschäftigung mit den vergangenen Grundlagen unserer Gegenwart nicht mehr heranzukommen an das Heute - oft aus schlichtem Zeitmangel - zeigt sich in den anderen Sachfächern als nicht erreichter Blick über den Zusammenhang.
Wer sich z. B. Lernbuchwerke naturwissenschaftlicher Fächer, Erdkunde- und Geschichtsbücher in ihrem Gesamtaufbau über alle Schuljahre hinweg anschaut, wird bei einiger Sachkenntnis wohl die interne Struktur des Faches ermitteln können. Die Frage ist nur, ob das reale Lernen überhaupt der sogenannten Sachlogik folgt. Dabei sei unberücksichtigt, wie der Lehrgang die Grundlagen des Faches aufbereitet. Nichtschulisches Lernen vollzieht sich nämlich von einer zu lösenden praktischen Aufgabe oder einem geistigen Orientierungsproblem oder von der Lust eines Spezialinteresses aus. Dabei ist das Ganze, in den die Erkenntnisse eingebaut werden, immer schon da. Aber nicht als innere Logik eines Fachbereiches, sondern als Lebenssinn. Und manchmal muß durchaus als Durststecke die Aneingnung von Grundwissensgebieten in die Bearbeitung eines Problems eingeschaltet werden. Dabei gerät man aber nicht in unergründliche Tiefen, weil es sich um Grundlagen für ein Problem handelt. Die Durststrecke wird in Kauf genommen, weil das gewußte Ziel in Form der Fragestellung das Streckenende absehbar macht. Genau dies vermissen die SchülerInnen, es sei denn, es handelt sich um kleine hochmotivierte SpezialistInnen. Aber hier ist ja ein geistiges Steckenpferd, mithin das Individualinteresse vorgegeben. Diese SchülerInnen kommen im Unterricht spielend mit, nehmen die Durststrecken in Kauf und erhalten gute Noten. Können wir uns damit beruhigen, daß wenigstens ihnen der Unterricht gut bekommt? Was ist mit den anderen, der Mehrheit? Uns allen geläufige Erfahrungen lassen Rückschlüsse auf ihre Überlebensstrategie im Umgang mit dem Grundwissen zu. Wer eine Klasse neu übernimmt und sich nach den Lernvoraussetzungen erkundigt, fällt fast immer aus allen Wolken: Nichts (mehr) vorhanden von dem, was laut Lehrplan eigentlich vermittelt sein müßte. Es heißt wieder ganz von vorne anfangen oder den Mut zur Lücke haben. Hat man es nun mit einer unfähigen VorgängerIn zu tun oder mit einer dummen Klasse? Wahrscheinlich nur mit der geläufigen SchülerInnenstrategie dem sogenannten Grundwissen gegenüber: bis zur Reproduktionsaufgabe `Klassenarbeit' die geforderten Stücke auswendig lernen und dann schnell alles wieder vergessen.
Das ist erstens nicht "dumm", da die Disparatheit der Lerngegenstände bei fehlendem strukturierenden Zusammenhang überhaupt nichts anderes zuläßt als Memorieren und dies natürlichweise nur für eine begrenzte Zeit:
"Man wird mit so vielen Einzelheiten 'vollgestopft', daß am Ende des Schuljahres wirklich nur ein Bruchteil hängengeblieben ist." (Nicole, 9. Klasse, Gymnasium)
Und noch in einer zweiten Hinsicht ist die Schülerstrategie nicht "dumm", denn da die drei oben genannten Voraussetzungen des unschulischen Lernens nicht vorliegen, erscheinen die Vertröstungen auf später als leer.
Und haben wir wirklich plausible Argumente anzubieten? Doch wohl nicht die Behauptung, daß alles mit allem zusammenhängt. Das ist zwar richtig, aber unter dieser Perspektive ist jedes Detail irgendwie Grundlage. Wie tief und wie verzweigt die Wurzeln sein müssen, läßt sich nur aus der Funktion, aus ihrem Sinn her einsichtig machen. Und solch ein Sinn wird im Schulunterricht selbst nicht deutlich. Wobei sehr fraglich ist, ob das innerhalb der Aneignungsform eines an der sogenannten Sachlogik orientierten Schulfaches überhaupt möglich ist. Denn die Grundlagen selbst zeigen von sich aus den Sinn nicht an und bei nie abgeschlossenem Wissenserwerbsprozeß ist der Punkt äußerst schwer bestimmbar, von dem aus die vielen Baüme für das Bewußtsein zu einem Wald werden.
Vielleicht sind sogar Grundlagen immer nur für ein praktisches Ziel bzw. ein Bewußtseinsstadium, und nicht für einen Seinsbereich bestimmbar. Daß es Lernschrittreihenfolgen gibt, widerspricht dieser Annahme nicht, hat aber mit der Rechtfertigungsfigur "Man braucht doch erst ein Grundwissen, damit man später...." nichts zu tun. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein hat die relativ konstante Berufsstruktur einer statischen Gesellschaft den Bestand eines Grundwissens suggerieren können. Aber heute noch davon ausgehen, wo sich die Berufe und Qualifikationen in einem immensen Tempo vervielfachen, voneinander trennen, veralten, neu entstehen?
Schließlich sei noch eine besonders ärgerliche "Grundwissensvariante" mitgeteilt, die zur typischen SchülerInnenerfahrung gehört. Sie ist zwar im Unterschied zu Verweisen auf das jenseitige Leben nach Schulabschluß überprüfbar, denn sie besagt nur, daß etwas in der Mittelstufe gelernt werden soll, weil man es in der Oberstufe benötigt. Aber erstens wird dieses Versprechen meistens nicht eingelöst und zweitens entsteht daraus für SchülerInnen, die nach der 10. Klasse abgehen, ein Betrug:
"So habe ich z. B. die Erfahrung in der Mittelstufe gemacht, daß ich 3 Jahre lang zusätzlich zum Grundstoff der Mathematik (der nach Lehrplan vorgeschrieben war) auch noch vielerlei mathematische Zusätze lernen mußte mit dem Argument meiner Lehrerin, daß wir dies alles noch in der Oberstufe genauer durchnehmen würden - was größtenteils nicht der Fall war! Da fragt man sich doch als Schüler: Wozu das Ganze? Gerade Mathematik in der Mittelstufe wurde, da es oberstufenvorbereitend sein sollte, so sehr abstrahiert, daß vor allem Schüler, die nach der 10. abgingen, so gut wie nichts davon in ihren Beruf einbringen konnten." (Ulrike, 13. Klasse, Gymnasium).

2.3. Bildung vs. Ausbildung

Unübersehbar in der SchülerInnenkritik an den Lerninhalten ist die Forderung nach Orientierung an der künftigen Berufspraxis. Ihr Kriterium ist die Ausbildungsfunktion, das Lernen "zum Zwecke des". Demgegenüber könnte man einwenden, daß Schule, insbesondere das Gymnasium aber dem Ideal der Bildung verpflichtet sei, dem zweckfreien Lernen, das nur der inneren Bereicherung des Lernenden dient. Gerade angesichts der Tatsache einer immer weiter fortschreitenden Entkoppelung von Schulsystem und Beschäftigungssystem sollte man annehmen, daß sich die Schule guten Gewissens von ausbildungspropädeutischen Zumutungen verabschieden kann. Aber unsere SchülerInnen klagen Bildung merkwürdigerweise explizit nicht ein.
Er läge in der gegenwärtigen Situation eigentlich nahe. Denn bis auf die Vermittlung von Kulturtechniken (Lesen, Rechnen, Schreiben, Arbeits- und Informationstechniken) ist die Berufswelt so differenziert und in permanentem Wandel begriffen, daß Unterricht immer nur Entwicklungen hinterherhecheln kann.
Die Tatsache, daß SchülerInnen vor allem mit berufsvorbereitenden Nützlichkeitskriterien argumentieren und die systematische Frage nach dem Verhältnis von Bildungs- und Ausbildunsanteilen im Curriculum nicht stellen, mag darin begründet liegen, daß die Leistungsgesellschaft sie bereits jetzt in Atem hält.
Wobei man freilich zugestehen muß, daß implizit der Bildungsgesichtspunkt in den Äußerungen immer wieder aufscheint. Die Forderung nach Thematisierung wichtiger Gegenwartsprobleme verlangt ja zunächst einmal Aufklärung eines Sachzusammenhang zwecks geistiger Orientierung und nicht, weil dies im späteren Berufsleben von Nutzen sei.

3. Was SchülerInnen an den ihnen vorgesetzten Lerninhalten kritisieren

SchülerInnen gehen in ihrer Einschätzung realistisch, gleichsam cool vor. Sie wissen, daß für ihre späteren Berufschancen das Notenbild bzw. der Notendurchschnitt von Bedeutung ist. Von daher empfinden sie das erfahrene Curriculum als extrem ungerecht, weil es mit hohem Spezialisierungsgrad ein äußerst geringes Spektrum des Lernmöglichen überhaupt abdeckt und so SchülerInnen bei der Punkteverteilung bevorzugt, deren Spezialinteressen zufällig mit den verordneten Angeboten übereinstimmen. Wer zu Hause Computerfachmensch ist, wird in einer Schule mit entsprechendem unterrichtlichem Angebot optimal bedient, da Individualinteresse und Ausstattung der Schule mit Fachräumen, Geräten und qualifizierten LehrerInnen zusammenfallen. Hat er das Pech, in eine Schule gehen zu müssen, die nicht entprechend ausgestattet ist... Dort wird vielleicht die kleine ChemikerIn bestens bedient. Aber was ist an beiden Schulen mit der kleinen AquarianerIn oder IngenieurIn?
Oder was ist mit der RadsportlerIn, der SurferIn oder der SkateboarderIn? Sie haben eben Pech gehabt und das ist angesichts der Notengebung gemein, weil ungerecht:
"Ich meine man sollte das Fach Sport abschaffen oder zumindest so einrichten,, daß sich Schüler eine bestimmte Sportart aussuchen können. Die Noten im Sport hängen nämlich sehr vom eigenen Talent ab. Wenn jemand z. B. nicht besonders kräftig ist, hat er in der Leichtathletik und dem Schwimmen fast keine Chance. Das sind dann schon einmal zwei schlechte von meist drei Teilnoten in einem Halbjahr." (Wolfgang, 8. Klasse, Gymnasium).
Um dieses offenkundige Unrecht zu beseitigen, schlagen die UmfrageteilnehmerInnen ein Dreifaches vor: 1. Abschaffung der Zensuren, 2. variable Gestaltung der Wochenstundenzahl von Fächern und Kursen mit breiteren Wahlmöglichkeiten je nach SchülerInneninteressen und 3. größere Berücksichtigung von Allgemeinbildung.

Freilich ist diese allgemeine Kritik eine Sythetisierung der SchülerInnenantworten zu einem Grundtenor. Denn unsere vier Fragen haben ja den Bezug zu einzelnen Schulfächern vorgegeben.

Wie sieht es nun mit den einzelnen Fächern aus?
Es gibt ein einziges Fach, das prinzipiell unangefochten da steht: Englisch - und im weiteren Sinne Fremdsprachen überhaupt. Ihr Nutzen ist evident. Die Welt wächst zusammen und es bedarf eines gemeinsamen Werkzeuges zur Verständigung. Wenn finnische, deutsche und portugiesische Jugendliche in den Sommerferien mit Interrailticket durch Europa reisen, benutzen sie eben nicht Französisch als Medium, sondern Englisch. Internationale Fachzeitschriften und Kongresse verwenden nicht Russisch oder Spanisch als gemeinsame Sprache, sondern Englisch, usw. Daher die Konkurrenzlosigkeit und Akzeptanz, die in nachrangig eingestuften Sprachen sofort wegfällt:
"Französisch: Bei uns an der Schule muß man eine zweite Fremdsprache nehmen und dagegen ist auch nichts einzuwenden, doch muß es ausgerechnet Französisch sein? Außerdem könnten Leute, die in Sprachen nicht so gut sind, vielleicht ein naturwissenschaftliches Fach stattdessen nehmen." (Nadine, 8. Klasse, Gymnasium)
Vielleicht könnte die FranzösichlehrerIn erklären, daß die Beseitigung der deutschen Erbfeindschaft durch das Gespann Adenauer/deGaulle, der folgende Freundschaftsvertrag, die subventionierten Austauschreisen usw. die historisch-politischen Gründe für die staatlichen curricularen Zwangsfixierungen seien. Allein, Nadine hat nach Vernuftsgründen für den Rang des Französischen gefragt und darauf ist der Verweis, daß etwas zufällig im Laufe der Geschichte nun mal so geworden sei, keine rechte Antwort. Noch einmal: Englisch hat diese Legitimationsschwierigkeiten als obligatorisch nicht und Fremdsprachen in Form eines vielfältigen Wahlangebotes auch nicht. In den Wünschen (Frage 4) taucht denn auch eine Fülle exotischer Sprachenwünsche in der Form von Wahlfächern auf.
Wie Englisch der anerkannte Spitzenreiter unter den Schulfächern ist, gibt es auch ein Fach als Schlußlicht, dem seine Existenzberechtigung in einem staatlich verordneten Fächerkanon durchgängig bestritten wird:
"Ich finde, man sollte das Fach Religion abschaffen. Man braucht im späteren Leben kein Wissen über Religion. Es gibt heute Kirchen und Kindergottesdienste, und wem es gefällt, kann da ja hingehen." (Andreas, 6. Klasse, Gesamtschule)
SchülerInnen beklagen sich darüber, mit den abseitigsten und unwichtigsten Themen traktiert zu werden: mit Kirchengeschichte, mit absurden Wundergeschichten der Bibel, Glaubensmysterien usw. Ihre Hauptfrage, die sie an Religion haben, ist eigentlich nur: Wie kommt es, daß dieser offenkundige Unfug eine derartige Wertschätzung genießt? Warum soll man eigentlich an Jesus glauben? Aber das sind religionssoziologische Fragestellungen, die in das Fach Sozialkunde gehören. Hingegen der Glaube selbst ist Privatsache und gehört deshalb nicht in ein staatliches Curriculum.
Ähnliche Argumente führen die UmfrageteilnehmerInnen auch gegen die musischen Fächer an. Es gibt Sportvereine, Musikschulen und Malschulen, in die man nachmittags gehen kann und wer begabt ist bzw. ein Individualinteresse hat, soll dort sich austoben. Angesichts der Zensierung und des engen Angebotsspektrums wird nämlich zwangsverordnete Kunst, Musik und Sport für viele SchülerInnen zur Quelle der Diskriminierung und Langeweile:

"Die gesamte Kunsterziehung lief darauf hinaus, daß derjenige, der gut malen konnte, gut war und interessiert und talentiert arbeitete. Die weniger talentierten hingegen waren immer benachteiligt." (Markus, 13. Klasse, Gymnasium)."

"Man könnte und sollte folgende Fächer abschaffen:
a) Sport - Angesichts des unbarmherzigen Notendrucks, der auf den Schüler ausgeübt wird, ist der Schulsport für aus gesundheitlichen Gründen leistungsschache Schüler eine Quälerei!!
b) Musik - Der Gesang und das Singen ist nicht jedermanns Sache, ebenso wie das Drum und Dran. Viele Schüler (insbesondere die Jungen im Stimmbruch) `können einfach nicht' singen und hassen es wie die Pest, weil es vorgeschrieben ist.
c) Religion - Die Glaubensbildung ist eine rein persönliche Angelegenheit des Schülers. Der Glaube sollte nicht `geformt' werden, sondern sich aus sich heraus aufbauen.
d) Physik/Chemie - Meiner Meinung nach sind diese Fächer eher als individuelle Interessengebiete, denn als absolutes Muß anzusehen. Sie sind nicht für jeden Schüler von gleicher Bedeutung.
Auf jeden Fall sollten diese Fächer im Falle eines Wegfalls durch Arbeitsgemeinschaften auf freiwilliger Basis ersetzt werden!!" (Natalie, 9. Klasse, Gymnasium).

Das letzte Zitat faßt eine ganze Reihe von Fächern unter dem Argument der fehlenden Passung von zwangsverordnetem "Angebot" und Individualinteresse bzw. Begabung zusammen und ist damit repräsentativ für den Kern der Curriculumkritik von SchülerInnen.

Zwar fällt das Fach Mathematik auch unter diese Argumentation, nimmt aber eine gewisse Sonderstellung ein. Es ist negativ besetzt als das Sinnlosigkeitsfach überhaupt. Aber anders als das Fach Religion, das als veraltete Absonderlichkeit nur kostbare Zeit stielt und insofern Lernverbote erteilt, werden die SchülerInnen im Mathematikunterricht gequält, es sei denn sie sind kleine Mathe-ProfessorInnen. Die meisten Beispiele in den Zuschriften entstammen dem mathematischen Bereich:

"In Mathematik haben wir neulich z. B. eine solche Aufgabe gerechnet: I -9 I - I -11 I = ? Wenn man die Striche vor und hinter -9 und -11 (Betragsstriche) wegläßt, werden aus -9 und -11 +9 und +11. Warum muß man solche Aufgaben rechnen? In Geometrie haben wir neulich Winkel, Höhen,... konstruiert. Warum muß man das mühevoll mit dem Zirkel konstruieren, wenn man es genausogut mit dem Geodreieck ausmessen kann?" ( Michaela, 8. Klasse, Gymnasium).

Nun könnte man der Kritikerin antworten unter Heranziehung des Aspektes "Bildung vs. Ausbildung", sie habe nicht begriffen, daß es im Mathematikunterricht nicht nur um das Training von Rechenfertigkeiten gehe, sondern um erhabenere Dinge. Dieser Einwand ist wohl kaum von der Hand zu weisen, rettet aber die Unterrichtsrealität nicht. Denn es stellt sich sofort die Frage ein, warum dieser Bereich zweckfreien ästhetischen Spiels nicht denselben Rang erhält wie etwa Popmusik oder Fußball. Wers mag, mags mögen und sich auch leidenschaftlich damit beschäftigen. Doch warum wird allen SchülerInnen gleichermaßen dieses Hobby zwangsverordnet mit hohem Stundenanteil und unter Notendruck? Daß dieses abgehobene Feld angeblich ein Kriterium für die intellektuelle Gesamtqualität einer SchülerIn abgeben soll, erscheint rätselhaft:

"Ich bin in der Realschule, 8. Klasse und finde die ganze Mathematik unnötig. Aber um anscheinend der Qualität eines Realschulabgängers zu entsprechen, benötigen wir diese Art Mathematik. Die ganze Rechnerei mit Unbekannten (x,y,z usw.), die wir in letzter Zeit lernen mußten, ist doch eigentlich unwichtig. Die Geometrie könnte man höchstens in einem speziellen Beruf gebrauchen, aber ansonsten sehe ich darin keinen Sinn." (Rainer, 8. Klasse, Realschule).

Allerdings scheint dieses Rätsel nicht allein in der Unfähigkeit der LehrerInnen begründet zu liegen, den objektiven Wert ihres Faches ihren Untergebenen plausibel zu machen. Denn obgleich eigentlich alle wissen, daß die Mehrzahl dieser eigenartig zweckfreien, zugleich aber viele Menschen quälenden Lerninhalte keinerlei Bezug zur späteren durchschnittlichen Berufspraxis hat, spielt die Mathematikzensur eine entscheidende Rolle bei der Vergabe von Lehrstellen oder Studienplätzen:

"Dann noch etwas zu Mathe, Physik und Musik. In diesen Fächern lernt man Dinge, die man später wohl nie verwenden kann. Vor allem aber in Mathe. Im Beruf braucht man's kaum, aber ohne Mathe bekommt man schon gar keine gescheite Stelle." (Claudia, 8. Klasse, Realschule). Wie ist diese Verrücktheit erklärbar?

Natürlich ließe sich das Problem nach den SchülerInnenmeinungen leicht lösen: Trennung des Rechnens als Lebenshilfe für alle von der Mathematik als ästhetischem Spezialkurs für wenige. Warum der Lehrplan und die Stundentafel nicht schon lange so organisiert sind, wo der Vorschlag doch vernünftig ist, hat möglichweise Gründe, die mit Pädagogik im strengen Sinne, mithin mit dem SchülerInnenwohl nichts zu tun haben. Wir kommen im Abschnitt "Hintergedanken" darauf zurück.
Es bleiben noch Anmerkungen zu Biologie und Erdkunde und hier sind sich die SchülerInnen einig, daß sie beide Fächer in wissenschaftspropädeutischer Form ablehnen, aber als politische Fächer begrüßen, wenn sie von aktuellen Problemen der Ökologie, des Trikont, der Weltwirtschaft usw. ausgehen und Orientierungswissen bereitstellen. Deutlich handelt es sich um Bildungsforderungen, die ihren Sinn nicht im materiellen Nutzen für eine berufliche Karriere haben, sondern in einer Bereitschaft, sich für ein gutes Leben und für eine verantwortete Zukunft zu engagieren.

4. Was SchülerInnen lernen wollen

Die Verbesserungsvorschläge der SchülerInnen werden wir in diesm Abschnitt unkommentiert vorstellen. Sie sprechen für sich.

Zunächst fächerübergreifende Anregungen:

Geht es nach den Umfrageergebnissen, ist es dringend nötig zwei Fächer neu einzuführen. Sie werden in vielen Zuschriften explizit gefordert und dies sogar mit Hinweis auf die Untauglichkeit von sogenannten Unterrichtsprizipien. Freilich fällt dieser Lehrplanterminus nicht, aber die SchülerInnen sprechen damit eine bittere Erfahrung an, was nämlich passiert, wenn ein Thema nicht eigenständig mit Stundenanteil ausgewiesen wird. Steht in den Richtlinien "Ein eigenständiges Fach `Sexualkunde' gibt es nicht. Es ist Unterrichtsprinzip.", so soll es in Deutsch, Religion, Biologie - wo eben immer möglich - an entsprechender Stelle behandelt werden. Die Folge ist, daß es oft ganz unter den Tisch fällt. Also pochen unsere SchülerInnen auf die Eigenständigkeit der Fächer "Umweltschutz" und "Menschlichkeitslehre". Die folgende Zuschrift stellt diese Forderung in exemplarischer Weise:

"Wir brauchen Umweltkunde'. Wenn es in Bio einbezogen wird, wird es nicht ausreichend behandelt. Gerade jetzt, wo wir KINDER erwachsen werden sollen, wo wir erst einen kurzen Teil unseres Lebens hinter uns haben, müssen wir mit der Angst leben, schon den größten Teil unseres wirklichen Lebens hinter uns zu haben. Denn wenn die Natur kaputt ist, leben wir nur noch als Wesen, nicht mehr als Mensch. Und darum müssen wir unbedingt lernen, mit der Umwelt umzugehen.
Ein zweites neues Fach wäre 'Menschlichkeitslehre'. Ich finde wahrscheinlich nicht den richtigen Ausdruck dafür, aber es fällt mir wahnsinnig auf, daß dieses Fach fehlt. An dem Gymnasium, an dem ich bin, hatten wir letztes Jahr eine Lehrerin, die versucht hat, uns die Menschlichkeit zu vermitteln. Seit dem gab es in unserer Klasse, in der sonst immer ein ziemlich schlimmes Verhältnis herrschte, fast überhaupt keine Probleme mehr. Dieses Jahr haben wir nun eine andere Lehrerin, die das nicht kann, und alles fängt so langsam wieder von vorne an. Wir müssen einfach LERNEN miteinander auszukommen, einander zu helfen, zu trösten, zu verstehen, zu reden, zu respektieren!" (Astrid, 8. Klasse, Gymnasium).

Schließlich folgen die gewünschten Themen und Themenbereiche, manchmal von den SchülerInnen auch als Fächer oder Fachbereiche angesprochen. Sie sind zwar ein wenig gruppiert, um den Überblick zu erleichtern. Aber zu lesen sind sie eher wie das Resultat eines Brainstormings über das, was unsere SchülerInnen lernen wollen - für die EinzellehrerIn nützlich vielleicht als Hinweis, was sie demnächst mal verstärkt unterrichten will. Ob SchulpolitikerInnen oder KultusbrürokratInnen sich von diesem Katalog beeindrucken lassen, wagen wir kaum zu hoffen. Darüber mehr in dem folgenden Abschnitt "Hintergedanken".
Liste der gewünschten Themen, Problemfelder, Aufgabenstellungen usw.:

5. Hintergedanken

Wer wollte den vernünftigen Vorschlägen der SchülerInnen seine Zustimmung versagen? Im Vergleich mit Ihnen stellt sich die beschriebene Realität in der Tat heraus als Wahnsinn der staatlich verordneten Curricula, anläßlich dessen unsere mit Urvertrauen in gesellschaftliche Bedingungen ausgestatteten SchülerInnen sich nur noch fragen können, welcher verrückte Bildungsminister wann einmal diesen monströsen Unfug verbrochen habe und warum man nicht alles schleunigst ändere. Wir realistisch denkenden PädagogInnen könnten auf diese Fragen etwas murmeln - oder auch vernünfteln - über die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (Unternehmer, Gewerkschaften, Kirchen, Parteipolitiker, Eltervertreter, Universitätsdidaktiker, Kultusbürokraten, Lehrerverbände, Fachverbände, Heimatvertriebene, freie Journalisten, Lebensreformer usw.), die alle von ihrem Eigeninteresse her und mit unterschiedlichen Kräften am Lehrplan herumgezerrt haben. Und da sei eben so etwas als Resultante herausgekommen. Das läßt sich bei Erich Weniger nachlesen und auch, daß der Staat es sei, der alle diese Ansprüche an den Lehrplan auszugleichen habe nach einer höheren Vernunft (Anm. 6).
Da habe der Staat, so vielleicht eine politisch denkende SchülerIn, aber einen gehörigen Mist verzapft und man müsse dann Politikern und Beamten Beine machen, damit sie eine Lehrplanreform in Gang setzen. Genügend gute Ideen liegen ja vor, wie unsere Untersuchung zeigt. Man müsse eben nur die Betroffenen fragen.
Daß dies aber nicht ganz einfach ist, können wir unserer nachbohrenden SchülerIn mit einem historischen Beispiel verdeutlichen: Im Streit um die Hessischen Rahmenrichtlinien, als zuletzt die Frage politisch gestellt wurde "Was sollen Schüler lernen?" (Anm. 7), haben sich viele PädagogInnen, SchulpolitikerInnen und KultusbürokratInnen die Finger verbrannt. Nostalgische Erinnerungen an die ferne, studentInnen- und lehrerInnenbewegte Zeit wird hoffentlich unsere SchülerIn unerbittlich vom Tisch wischen und sagen: "Wir leben jetzt. Wenn das schon so lange her ist, ist es um so dringlicher, die Auseinandersetzung um die Lehrinhalte neu zu entfachen." Wir können dann zumindest darauf hinweisen, daß unsere Umfrage und ihre Veröffentlichung unter anderem auch diesen Sinn hat.

Worauf wir sie aber nicht mehr hinweisen, sind gewisse Verdachtsmomente, die sich während der Auswertung der Untersuchung und der Diskussion insbesondere über die kritische Bestandsaufnahmen eingeschlichen haben.
Könnte es sein, daß der "Wahnsinn der staatlich verordneten und auch realisierten Lehrpläne" Methode hat?
Könnte es sein, daß es Imperative in der Anstalt "Schule" gibt, die etwas ganz anderes als Pädagogisches im Sinn haben?
Könnte es sein, daß genau diese Imperative den Brei "Lerninhalte" verderben und nicht, wie Erich Weniger noch vermeinte, die vielen Köche (gesellschaftliche Gruppen), die der Oberkoch "Staat" nicht fähig koordiniert?
Und könnte es möglichweise sogar sein, daß diese Imperative nicht nur unabsichtlich, sondern sogar gezielt verhindern, daß etwas Sinnvolles gelernt wird?

Daß diese Verdachtsmomente nicht ganz weit hergeholt sind, belegt das erstaunte Fragen eines Besuchers aus der Fremde, der mit kulturanthropolgischem Blick sich dem Schulwesen der BRD näherte. Es war ein Didaktikprofessor aus der ehemaligen DDR, der im März 1991 auf dem Öko-PädagogInnenkongreß "Und sie bewegt sich doch" in Bremen sich zu Wort meldete, sich nach rechts und links vorsichtig umblickte, denn als lernender Gast aus einem Land, das alles bisher falsch gemacht hat, stellt man eigentlich keine möglichweise beleidigenden Diagnosen:
"Ich habe im Verlaufe dieser Tagung den Eindruck gewonnen, als wenn es im Westen gar nicht gewollt wird, daß Kinder von der Schule auf das Leben sinnvoll vorbereitet werden."
Die Antwort in der Diskussion war offen und hat den Gast erschreckt:
"Natürlich geht es bei uns in erster Linie darum, daß die Schule ihre Rolle als Ausleseinstrument erfüllt. Das ist ihre entscheidende Aufgabe. Und die Auswahl der Inhalte, die Fächer und ihr Stellenwert, die Art Vermittlung usw. hängt vor allem davon ab."

Falls diese Beschreibung stimmt, würden viele Absurditäten funktional erklärt sein. Vor allem der hohe Stellenwert der Mathematik, weil ihre Aufgaben sich am besten zum Aussortieren eignen, eine "hohe Trennschärfe" haben. Und die Kritik an der Zufälligkeit, Abseitigkeit und Beliebigkeit von Lerngegenständen hinsichtlich des späteren Lebens prallt ab. Denn SchülerInnen durch Prüfungen in solche Klassen zu sortieren, die später einmal auf die Sonnen- oder die Schattenseite der Gesellschaft kommen, dazu ist beinahe jedes Thema geeignet. Es wäre so, als wollte man bei einem Springreitturnier die Höhe bzw. Schwierigkeit der Hindernisse beim Stechen mit Hilfe von Sinnfragen kritisieren. Sie haben nur den Zweck, Pferde zu trennen in solche, die es schaffen und den Rest.

Wie schön wäre es, sich damit zu beruhigen, daß unser Ex-DDR-Professor als wahrscheinlich ehemaliges SED-Mitglied alles ideologisch verzerrt sieht. Allein, der bundesdeutsche Soziologe Luhmann, unverdächtig der Mitgliedschaft in einer kommunistischen Vereinigung, betont in seiner systemtheoretisch geleiteten Analyse des BRD-Bildungswesen Selektion als die zentrale Funktion der Schule und warnt immer wieder vor idealistischen Fehleinschätzungen.
Also dürfen wir guten Gewissens einen linken Bildungstheoretiker zu Rate ziehen, der gegen die philanthropischen Illusionen der PädagogInnen die harte schulische Grundfunktion, die Klassengesellschaft zu reprodzuieren, betont: Siegfried Bernfeld mit seinem Buch "Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung". Denn er weist auf einen noch anderen Aspekt hin, warum die Lerninhalte angesichts dieser Funktion beinahe beliebig sind. In seinem Buch taucht ein zynischer "Unterrichtsminister Machiavell" auf und hält eine Programmrede vor den Beamten seines Ministeriums:
"Sie müssen nämlich verstehen, daß die Organisation des Erziehungswesens das entscheidende Problem ist, das wir konsequent und unerbittlich unserem Einfluß restlos vorbehalten müssen, während wir die Lehrplan- und Unterrichts-, selbst die Erziehungsfragen beruhigt den Pädagogen, Ideologen, ja selbst den Sozialdemokraten überlassen können.(...) Also die erste organisatorische Forderung ist: Trennung der bürgerlichen Jugend von der proletarischen.(...) Wenn ich sage,, wir wollen die bürgerliche Jugend von der übrigen trennen, so meine ich die Kinder jener Familien, deren künftige Klassenzugehörigkeit unsicher ist, die wir mit den Thronfolgern zusammen erziehen wollen. (...) Ich empfehle also einen Intellektuellenstand zu schaffen, indem Sie die quasi bürgerliche Jugend durch eine Bildungskluft von der proletarischen trennen und sie durch Identifikation für ewig im Wünschen und Denken mit der besitzenden Klasse verknüpfen. (...) Unter zwanzig Jahren werden wir keinen dieser Jünglinge, womöglich keinen unter fünfundzwanzig Jahren in die wirtschaftliche Realität eintreten lassen. Jeder soll ad libitum die Glücksmöglichkeiten des Besitzes kosten, sie sollen sich ihm mit der Lust der jungen Erotik, mit Freiheit und Trubel unlöslich verknüpfen, er soll in diesen gefährlichen Jahren, wo Querköpfe, und in der Pubertät wird man sehr leicht querköpfig, bereit sind, die Gesellschaft auf Gerechtigkeit und Recht zu prüfen, sie nicht kennenlernen in ihrem wirklich Bestand. Und wenn er sie einmal kennen lernt, soll er sie und ihre Vorteile, für sich und den Besitzenden überhaupt, nicht mehr entbehren können; (...) Was in diesen bürgerlichen Schulen mit der Jugend geschieht, ist völlig gleichgültig. Denken Sie diesen Gedanken durch! Wichtig ist bloß, wer in sie aufgenommen wird, und ob die Anstalten der quasi bürgerlichen Jugend die Möglichkeit geben, die Annehmlichkeiten eines kultivierten Lebens schätzen zu lernen, verbunden mit der Erkenntnis, daß diese nur durch den Bestand unserer vortrefflichen Ordnung gesichert, für sie selbst gesichert sind. (...) Aber nur keine Pedanterie; glauben Sie ja nicht, daß wir irgendein Interesse daran haben, daß diese Jugend etwas lerne.(...) Wir haben die Aufgabe, unserer Jugend eine feste Ideologie zu geben. Die lernt man nicht. Sie bildet sich von selbst an den Annehmlichkeiten eines parasitären Lebens." (Anm. 8)

Bernfelds Analyse ist lehrreich, weil sie hinausweist über den kurzen Blick auf eine unerbittliche Auslese durch Prüfung und damit einen oft geäußerten Widerspruch klärt. Die SchülerInnen, vor allem aus Bayern und Baden-Würtemberg, beklagen sich zwar über den Notendruck, aber in anderen Bundesländern bekommen die Sek II - SchülerInnen das Abitur doch beinahe nachgeworfen...
Unterstellen wir einmal die Wahrheit dieses Einwandes. So können wir gerne die Leichtigkeit der gymnasialen Oberstufe zugeben, da hier die Trennung durch eine unbarmherzige Auslese bereits von der 4. bis zur 10. Klasse Resultate gezeitigt hat. Jetzt kann die eine Trennungsform "Prüfung" zurücktreten zugunsten der anderen "angenehmes Leben". Gelernt wird in der gymnasialen Oberstufe nicht mehr viel. Vielmehr haben die SchülerInnen hier das Privileg, noch nicht unters Joch der Arbeitswelt gespannt zu sein. Sie erhalten die Muße, ihren Horizont zu erweitern. Und selbst wenn ihnen vieles an der Schule nicht paßt, spätestens nachmittags kann man sich mit FreundInnen treffen, dem Hobby nachgehen, dieses und jenes erproben - nicht nur in Liebesdingen. Bernfelds wichtiger Beitrag zur gedanklichen Klärung des Problems, warum in einem Schulsystem die Lerninhalte so eigentümlich beliebig sind, liegt in dem Hinweis, daß sich Ideologie durch Gewähren von Privilegien ohne Belehrung vermitteln läßt.
Die Einschätzung Bernfelds enthält an einer Stelle freilich noch einen größeren Dämpfer für curriculare Reformillusionen. Obschon es gleichgültig ist, an welchen Gegenständen die gymnasiale Bildungszeit in ihrer Mußequalität erfahren wird, so müssen aber Lerngegenstände, die zu kritischem Bewußtsein und gesellschaftlichem Veränderungswillen, also zu "Querköpfen" führen können, draußen bleiben. Unter dieser Maßgabe hat der größte Unsinn und die entfernteste Abseitikeit noch Methode. Sie funktionieren allein durch das Besetzen von Zeit und Gehirn als Lernverbote für das Sinnvolle, aber ordnungsgefährdende.

6. Schlußbemerkungen

Lassen wir offen, ob wir unserer kritischen SchülerIn unsere Hintergedanken offenbaren wollen, die Methode des curricularen Wahnsinns aufklären helfen. Es könnte sein, daß sie vorschnell resigniert in ihrer Orientierung am Guten und Vernünftigen. Denn es gibt ja keine Alternative, als durch Öffentlichkeit und politischen Druck die Orientierung an dem Idealbild einer sinnvollen Schulrealität einzufordern. Und dies trotz übermächtiger systematischer Beharrungstendenzen im schlechten Bestehenden. Auf schulorganisatorischem und methodischem Gebiet hat sich seit der konservativen Wende durch geduldige Kleinarbeit von PädagogInnen - in Schulen, in Universitäten, selbst in Kultusbürokratien, überall gibt es vernünftige, fortschrittliche Menschen - einiges getan, so daß wir auch etwas Hoffnung für die Zukunft der Lerninhalte haben können.

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Anmerkungen:

1. Die "AOL-Werkstätten" sind bundesweit arbeitende Gruppen. Sie erstellen für ihre jeweiligen Fachbereiche Unterrichtseinheiten, SchülerInnenarbeitsmaterialien und Projektvorschläge nach Maßgabe des hedonistischen Ansatzes. Nähere Informationen bei: AOL-Mutter, Itzehoer Weg 3, 2000 Hamburg 20.

2. Vergl.: Kurt Czerwenka et al: Schülerurteile über die Schule. Bericht über eine internationale Untersuchung. Frankfurt,Bern, New York, Paris: Verlag Peter Lang 1990. - Klaus Sochatzy: "Wenn ich zu bestimmen hätte..." Die Erwachsenenwelt im Meinungsspiegel von Kindern und Jugendlichen. Eine empirische Bestandsaufnahme. Weinheim: Beltz Verlag 1988.

3. Wir danken insbesondere der Jugendzeitschrift "Stafette" und der Terre-des-Hommes-SchülerInnenzeitschrift "Eulenspiegel" für ihre freundliche Unterstützung.

4. Diese auffallende Übereinstimmung der Einschätzungen, wie auch die schlagenden Begründungen und einleuchtenden Alternativvorschläge aus Betroffenensicht, haben uns bewogen, die Untersuchungsergebnisse für sich zu veröffentlichen, obwohl im strengen Sinne der empirischen Sozialforschung nur von einer Pilotstudie gesprochen werden kann.

5. Hermann Giesecke: Einführung in die Pädagogik. München 1969, S.57 - 61.

6. Erich Weniger: Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans. Weinheim 1952.

7. So lautete der Titel eines Buches, mit dem die GEW in den Streit um die hessischen Rahmenrichtlinien eingriff; Gerd Köhler und Ernst Reuter (Hrsg.): Was sollen Schüler lernen? Frankfurt 1973.

8. Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Leipzig 1925; zitiert nach der in der "Theorie 2"-Reihe des Suhrkampverlages (Frankfurt 1967) erschienen Neuausgabe, S. 98 - 101.

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