Projektorientierter Literaturunterricht mit dem Jugendbuch
Thierry Lenain: Das Mädchen am
Kanal.1
Antje Terwey, Hamburg
Sarah hat sich seit den Weihnachtsferien verändert. Sie hat sich die schönen, langen Haare abschneiden lassen und ist ungewohnt verschlossen, wirkt verstört. Lediglich ihrer besorgten Lehrerin fallen die gravierenden Veränderungen auf. Und irgendwie kommt ihr das alles bekannt vor: Erinnerungsfetzen steigen ihr ins Bewusstsein. Plötzlich fällt ihr alles wieder ein. Ihr Onkel. Sarahs Zeichenlehrer. Was damals ihr passierte, was jetzt mit Sarah geschieht! Ein Geheimnis, das sie teilen. Eine aufwühlende Geschichte über sexuellen Missbrauch, und doch ein Buch voller Hoffnung.
Einleitung
Unzählige Kinder werden bzw. wurden bereits auf unterschiedlichste Art
und Weise missbraucht und somit körperlich wie auch vor allem seelisch
zutiefst verletzt. Die Betroffenen sind oftmals lange Zeit nicht in der Lage,
über das Erlebte zu reden. Sie ertragen ihr Schicksal stumm und ergeben
aus Scham, aus Mangel an vertrauenswürdigen Mitmenschen,
Gesprächspartnern
Kinder, die ein sprachlos machendes Trauma erleiden, stehen Erwachsenen
gegenüber, die oftmals gestresst sind, keine Zeit haben, wegen ihrer
eigenen Kindheitserlebnisse taub geworden sind oder sogar selbst zu Tätern
werden.
Überall und zu jedem Zeitpunkt kann in unserem sozialen Umfeld ein
derartiges Verbrechen wie sexueller Missbrauch geschehen. Die Täter
und Opfer leben dann mitten unter uns in dieser Gesellschaft. Aus diesem
Grunde ist es wichtig, die Augen nicht zu verschließen, auch einmal
nach dem "Warum
?" einer Veränderung zu fragen, kurz: Mitmenschen
sensibel und aufmerksam gegenüberzutreten, die auffällig geworden
sind. Im Falle der Sarah, dem "Mädchen am Kanal" registrieren die Eltern
zwar missmutig die Wandlung der Tochter, ergründen diese aber nicht
ausreichend.
Thierry Lenain entwickelt seine Geschichte sehr verantwortungsbewusst. Die
Perspektive des Opfers Sarahs wird von den eigenen Erinnerungen der Lehrerin
abgelöst. Die Einzelheiten der Vergehen werden hier nicht detailliert
aufgezeigt, sondern ahnungsvolle Hinweise fokussiert, die immer wieder in
die Sprachlosigkeit münden- das perfide Mittel eines jeden Täters.
Heutzutage kann und darf man in der Jugendliteratur heikle Themen wie sexuellen
Missbrauch von Kindern nicht mehr aussparen. Schon gar nicht, wenn sie so
feinfühlig aufbereitet werden, wie es Thierry Lenain in seinem Jugendbuch
"Das Mädchen am Kanal" gelingt. Trotz "Happy End", einem Jugendroman
gemäß, wird dem jugendlichen Leser eindrucksvoll-nachfühlbar
vor Augen geführt, wie hilflos Kinder Erwachsenen ausgesetzt sein
können.
Wem aber sollte man zu welchem Anlass eine solche Geschichte schenken? Ein
"Vorwand" könnte der Hinweis auf die Sprachfertigkeit Thierry Lenains
sein. Aber warum benötigt die sensible Behandlung einer möglichen
Realität Vorwände, wenn diese doch den Horizont von Jugendlichen
erweitert und im besten Falle einer Präventivmaßnahme gleichkommt,
die Unheil verhindern kann?
I. Über den Autor Thierry Lenain
Thierry Lenain wurde 1959 geboren. Er war zunächst als Lehrer tätig
und arbeitet seit 1992 als freischaffender Kinder- und Jugendbuchautor. Zudem
ist er Chefredakteur der französischen Jugendzeitschrift "Citrouille".
Thierry Lenain schreibt Kinder- und Jugendbücher. So wurde er durch
die Kinderbücher "Hat Pia einen Pipimax? Das Buch vom kleinen Unterschied",
"Pia will ein Baby" sowie "Kein Kuss für Tante Marotte!", die jeweils
für Kinder ab 4 Jahre geeignet sind, bekannt.
In seinem Bilderbuch "Kein Kuss für Tante Marotte!" erzählt Thierry
Lenain eine Geschichte, die das Selbstbewusstsein von Kindern stärken
soll. Für Eltern bedeutet das in diesem Fall, dass ihre Kinder nicht
immer gesellschaftlich angepasst reagieren, wenn wieder einmal ein freundlicher
Erwachsener (hier: Tante Marotte) sein Maß an Zärtlichkeit einfordert.
Viel wichtiger ist dem Autor aber, dass Kinder sehr genau zum Ausdruck bringen
dürfen, was sie wirklich möchten und dass dies respektiert wird.
Hintergrund dieser Erzählung ist, frühzeitig sexuellem Missbrauch
vorzubeugen. Wenn kleine Kinder in der Lage sind, deutlich zu zeigen, welche
Zärtlichkeit sie mögen und welche nicht, wird es leichter für
sie, Handlungen, die sie nicht wollen, mit einem deutlichen "Nein" abzuwehren.
Diese Thematik durchzieht sein Gesamtwerk wie ein roter Faden. Thierry Lenain
liegt es besonders am Herzen, dass Kindern möglichst früh beigebracht
wird, dass sie das Recht haben, Missfallen zu äußern, egal, was
die Erwachsenen denken. Der erste Schritt dazu ist, ihnen beizubringen, dass
ihr Körper ihnen gehört und dass sie Erwachsenen Einhalt gebieten
dürfen und müssen, wenn sie sich bei Berührungen unwohl
fühlen.
Sein bisher größter Erfolg ist der Jugendroman "Das Mädchen
am Kanal", der 1992 mit dem "Grand Prix du Roman Jeunesse" des
Französischen Jugendministeriums ausgezeichnet wurde und im Jahre 2000
für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war. Über diese
Geschichte, die Gegenstand meiner Hausarbeit ist, sagt er selbst: "Worte
sind heikel. Aber Schweigen verdammt. Und ich schreibe."
I. 1 Kurze Zusammenfassung der Geschichte "Das Mädchen am Kanal"
Sarah wirkt in diesem Winter auf ihre Lehrerin seltsam traurig und
verstört. Sie hat sich sogar die schönen langen Haare abschneiden
lassen.
Die Eltern erwarten von Sarah durchweg gute Leistungen. Ihnen fallen zwar
die gravierenden Veränderungen ihres Kindes auf, gehen diesen aber nicht
auf den Grund und erklären die Probleme mit dem Phänomen
Pubertät. Als Sarah mit kurzen Haaren nach Hause kommt, bekommt sie
zwar Ärger, aber es wird nicht weiter nachgefragt.
Die Mutter fördert ihr Zeichentalent, schickt sie schon seit längerem
zu einem Privatlehrer. Dieser Zeichenlehrer hat großen Erfolg mit einem
Aquarell, das ein nacktes Mädchen auf einem Sessel zeigt
Als Sarah ihre Mutter bittet, vom Zeichenunterricht fernbleiben zu dürfen,
winkt diese verständnislos ab und interessiert sich nicht weiter für
das Anliegen ihrer Tochter.
Die Mutter versteht nicht, warum Sarahs schulische Leistungen nachlassen
und warum sie mit elf Jahren unbedingt eine Puppe haben will. Aus Sicht der
Eltern ist sie schlichtweg faul und rebellisch. Sarah fügt ihrer neuen
Puppe schreckliche Verletzungen zu, aber auch das sieht niemand
Wegen der schlechten Zensuren wird sie nur noch einmal in der Woche zum
Zeichenunterricht geschickt. Stattdessen erhält Sarah von der besorgten
Lehrerin höchstpersönlich Nachhilfeunterricht.
Sarahs Klassenlehrerin ist die einzige Person, die das veränderte
Mädchen zu verstehen versucht. Doch die Lehrerin hat Angst, lediglich
ihr eigenes Schicksal auf das von Sarah zu projizieren.
Zwanzig Jahre zuvor ist ihr dasselbe passiert wie sie bei Sarah vermutet.
Zwanzig Jahre zuvor dachte auch sie, der Kanal sei wegen ihr zugefroren,
und das Wasser könne nie mehr zum Meer fließen.
Die Lehrerin sorgt sich um Sarah, obgleich es ihr selbst nicht gut geht.
Der zugefrorene Kanal erinnert sie an ihre eigene Kindheit und an den Onkel,
der sie damals missbrauchte. Sie will vor der Vergangenheit fliehen, findet
dann aber doch die Kraft, der stumm leidenden Sarah zu helfen.
I. 2 Formale und erzähltheoretische Aspekte
Nachfolgend möchte ich die formalen und erzähltheoretischen Aspekte
der vorliegenden Erzählung untersuchen. Thierry Lenain hat in seiner
Ausgabe vom Fischer Taschenbuch Verlag auf Illustrationen bzw. Fotos verzichtet,
hat also eine reine Textversion gewählt. Opfer, Täter, alle
Erzählfiguren bleiben optisch gesichtslos, abstrakt, der eigenen Phantasie
überlassen und somit übertragbar. Lediglich der Bucheinband lässt
einen Rückschluss auf den Buchtitel "Das Mädchen am Kanal" vermuten
und zeigt ein verzerrtes Schwarzweißfoto einer Allee, die an einem
Flusslauf entlangführt. Hierbei assoziiert der Betrachter nach Lektüre
den zugefrorenen Kanal, ein bedeutungsvolles Motiv der Erzählung. Der
Eindruck eines drohenden Unheils wird durch die düsteren Grautöne
bereits vor dem Leseeinstieg unterstrichen.
II. 1 Die Kapiteleinteilung
Thierry Lenain unterteilt seine Erzählung, welche in der Ausgabe des
Fischer Taschenbuch Verlages 74 Seiten umfasst, in 19 relativ kurze Sequenzen.
Die Unterteilung wird durch Fettdruck scheinbar zufällig gewählter
einleitender Satzfragmente, die für den Fortlauf der Geschichte nicht
relevant sind, hervorgehoben:
Die einleitenden Satzfragmente greifen auffällig häufig thematisch
Wetterphänomene auf, die eine bestimmte Stimmung (Kälte, Monotonie,
Nebel) transportieren und den Leseeindruck auf diese Art und Weise
dementsprechend einfärben.
Die Sequenzen 1,2,3,4,5,7,11 und 13 beinhalten einen Wechsel von der
Schicksalsschilderung Sarahs zu einem jeweils kapitelabschließenden
Tagebucheintrag ihrer Klassenlehrerin, die sich Gedanken über ihre
Schülerin sowie über sich selbst macht und diese niederschreibt.
Die Tagebucheintragungen der Lehrerin sind kursiv gedruckt, heben sich somit
deutlich ab. Aber allein das Schriftbild kann über die Parallelität
der Schilderungen, Gedanken und Gefühle nicht hinwegtäuschen.
Die Kapitel 9 und 10 (Datumsangaben) beinhalten ausschließlich
Tagebucheintragungen der Lehrerin und legen somit zwischenzeitlich einen
Schwerpunkt auf diesen weiteren Handlungsstrang (Schicksal der Lehrerin vor
20 Jahren). Durch diesen geschickten Aufbau der Geschichte gelingt es dem
Autor, die Perspektive Sarahs von den Erinnerungen der Klassenlehrerin
abzulösen. Der Roman bietet durch den Perspektivenwechsel von Sarah
zu ihrer Lehrerin und umgekehrt dem Leser einen Beobachtungsposten, der eine
Distanz zu den schrecklichen Dimensionen der Geschichte möglich macht.
II.2 Die Erzählperspektive
Thierry Lenain gestaltet die Ebene der erzählerischen Vermittlung keineswegs
kommentierend oder gar bewertend, was man als auktorial bezeichnen würde.
Er schreibt der Leserschaft somit nicht die "richtige Sicht der Dinge" vor.
Stattdessen zieht er es vor, die Ebene der erzählerischen Vermittlung
-jenseits der Tagebucheintragungen der Lehrerin- weniger auffällig zu
gestalten. Die Leser sehen sich somit direkter mit den Geschehnissen konfrontiert
und werden dazu angeregt, selbst über sie nachzudenken. In neuerer Zeit
wird -wie auch in diesem Fall- der sehr viel häufiger vorkommende Typ
der personalen Erzählsituation favorisiert. Als Beispiel möchte
ich zitierend anführen:
"Sie zittert, aber nicht vor Kälte. Sie bemerkt die Kälte genauso
wenig wie die Menschen, die an ihr vorbeihasten. Mit fahlem Gesicht geht
sie weiter. Woanders hin, nirgendwo hin. Sie ist nicht mehr in ihrem
Körper, der wie ein Roboter an den Mauern
entlangstreift."2
Uns tritt hier keine persönliche Erzählerfigur entgegen, die
zusammenfassend ankündigt, was uns im folgenden Roman erwartet. Wir
werden vielmehr scheinbar unmittelbar in die Ereignisse hereingestellt und
müssen selbst schauen, dass wir aus dem Geschilderten schlau werden.
Natürlich gibt es trotzdem einen Erzähler, der das Geschehen
vermittelt, nur ist er nicht als Person gestaltet und verzichtet weitgehend
auf zusammenfassende, kommentierende Darstellung. "Sarah packt ihre Farbstifte
zusammen. Ein Filzstift kullert unter den Tisch. Sie bückt sich und
kontrolliert dabei die Ablage unter ihrem Tisch. Alles in Ordnung. Sie sieht
die Bücher und Pausenbrote, die sie seit etlichen Tagen hier
aufbewahrt."3
Das eigentlich Charakteristische dieser Erzählform liegt darin, dass
das Erzählerwissen auf die Perspektive einer Figur, in unserem Fall
der Protagonistin Sarah und teilweise auf die Lehrerin und die Eltern, begrenzt
ist.
Nicht die objektiven Ereignisse werden uns vorgeführt, sondern die
Wahrnehmung der Protagonisten. "Auf der anderen Seite der Sonne erwartet
sie ihre Großmutter, strahlend und fröhlich. Sie schließt
ihre Enkelin in die Arme und tröstet sie. Wenn es Sarah wieder besser
geht, kehrt sie nach Hause
zurück."4
Da sich also die Darstellung bei dieser Form der Erzählung so weit wie
möglich dem Erleben einer beteiligten Figur annähert, sind Passagen
in berichtender Form zwar vorhanden, aber nicht vorherrschend. Dialoge und
Beschreibungen stehen im Vordergrund:
Dabei vermischen sich oft in raffinierter Weise die Ebenen. Teilweise ist
es nicht einfach, zu entscheiden, ob eine Formulierung dem Empfinden des
personalen Mediums entspringt oder als Kommentar des unpersönlichen
Erzählers aufgefasst werden muss. Während also ein auktorial
erzählter Roman unsere Reaktionen stärker steuert, müssen
wir bei diesem Text in personaler Erzählhaltung unsere Sicht der Dinge
zwischen Figurenperspektive und angedeuteten Erzähler-Kommentaren selbst
herausfinden.
Mit dem Perspektivenwechsel von Sarah zur Lehrerin geht bezüglich ihrer
Tagebucheintragungen auch ein Wechsel der Erzählperspektive einher.
Sämtliche kursiv abgesetzten Tagebucheintragungen schreibt Sarahs
Klassenlehrerin in der Form der Ich- Erzählung nieder. Mit der personalen
Erzählhaltung hat sie gemeinsam, dass die Ereignisse aus der Perspektive
einer beteiligten Figur (hier ausschließlich der Lehrerin) berichtet
werden. Das Wissen der erzählenden Instanz (und damit die Informiertheit
der Leser) ist also begrenzt. Jedoch übernimmt hier eine an der Geschichte
beteiligte Figur die Erzählung.
In diesem Fall erscheint dieselbe Person zweimal: einmal als sich- erinnerndes
Ich, das die "abgeschlossene" Geschichte überschaut (hier irgendwann
auch zulässt) und den Lesern vermittelt, zum anderen als erlebendes
Ich auf der Geschichtsebene. Während das erzählende Ich seine
Erlebnisse kommentiert, geht das erlebende Ich im Geschehen auf. Am Ende
eines solchermaßen erzählten Lebensweges (der zumeist als Lehrweg
verstanden wird) ist die Gegenwart des Erzählens erreicht: Erlebendes
und erzählendes Ich werden eins.
"Dienstag, den 21.Januar. Ich habe die Sozialarbeiterin angerufen. Sie hat
mir versprochen sehr taktvoll vorzugehen. Wenn nötig, wird sie die
zuständigen Stellen informieren und Sarah wird in Sicherheit gebracht
werden. Jetzt kann ich endlich an mich selbst denken. Ich muss den Koffer
fertig packen. Morgen reise ich ab. Bei meiner Rückkehr werde ich meinen
Seelenfrieden hoffentlich wiedergefunden haben und das im Badezimmer eingesperrte
kleine Mädchen befreit
haben."6
Typisch für diese Form des Erzählens ist also, dass wir ähnlich
wie beim vorher personal erzählten Text relativ nah an den Ereignissen
dran sind. Jedoch ist der Ich- Erzähler insofern mit einem auktorialen
Erzähler vergleichbar, als er seine Lebensgeschichte souverän
überschaut. Je nachdem, was die Lehrerin selbst für wichtig hält,
wird sie in der Darstellung "raffen" oder "dehnen", Teile und das Ganze der
Geschichte kommentieren und bewerten. Beim Lesen der Tagebucheintragungen
muss der Leser eine ähnlich aktive Rolle übernehmen wie bei der
Lektüre des personal erzählten Textanteils. Nach einer Weile bemerkt
man eine gewisse "Unzuverlässigkeit" der Lehrerin, die aus Angst und
Blockade bestimmte Aspekte ihrer Geschichte nicht wahrnehmen kann bzw. will.
Diese Tatsache treibt uns an, zwischen den Zeilen zu lesen und unsere eigenen
Schlüsse zu ziehen:
"Ich sitze seit Stunden über diesem Tagebuch und kratze mir die Hände
blutig. Ich kann es nicht aufschreiben. Ich habe mich in mich selbst
zurückgezogen, um "es" vor dieser Welt zu beschützen, das sie
tödlich verletzt hat, das kleine Mädchen, vor dem ich mich
schäme."7
Die Erzählperspektive bietet häufig eine Art Schlüssel, zumindest
eine gute Ausgangslage für die Analyse eines narrativen Textes.
Schließlich steht die Bedeutung einer Geschichte nicht von vornherein
fest, sondern hängt entscheidend davon ab, wie sie präsentiert
wird. Diese Präsentation ist dem Autor Thierry Lenain durch
Perspektivenwechsel meiner Meinung nach gelungen.
II.3 Sprache und Stil
Hervorzuheben ist die außerordentliche Sprachfertigkeit Thierry Lenains.
Seine poetische Lakonie, hervorragend von Anne Braun ins Deutsche
übersetzt, erinnert ein wenig an Kafkas Erzählstil. Ihm gelingt
es, durch bildhafte Sprache Stimmungen zu erzeugen, die nachfühlbar
sind:
"Nach dem Zeichenunterricht irrt Sarah durch die Straßen. Sie hat die
Hände tief in den Manteltaschen begraben. Tränen laufen über
ihr Gesicht, das vor Kälte gerötet ist. Sie geht langsam, lässt
sich einfach durch die Straßen treiben und findet sich plötzlich
an der Böschung des Kanals
wieder."8
Der Roman weist ein literarisch hohes Niveau sowie eine gehobene Stilebene
auf, die den Leser durchaus mitreißen kann, ohne inhaltlich den sexuellen
Missbrauch von Sarah im Detail zu beschreiben. Ahnungsvolle, nahezu sinnlich
verpackte Hinweise, die immer wieder in Sprachlosigkeit münden, reichen
hier völlig aus, um den Leser angemessen zu berühren:
"Es lief ihr kalt über den Rücken, wenn der Zeichenlehrer hinter
ihr stand und sie seine tiefe Stimme hörte, die sie einschläferte,
ihr im Ohr kitzelte. Sie begann zu zittern, wenn seine Hand ganz leicht die
ihre berührte, wenn er ihr zeigte, wie sie ihre Finger um den Zeichenstift
legen musste. Sie hatte es genossen
.Erst da überließ sie
sich den angenehmen Gefühlen, die sie
verspürte."9
Diese Literatur lässt sich hauptsächlich als Darstellung von
Wirklichkeit verstehen. Die Realität soll gespiegelt und dem Leser
"begreifbar" gemacht werden. Außerdem kommt hier der ganz persönliche
Ausdruck Thierry Lenains zum Tragen, der seine Empfindungen und die daraus
resultierende Intention möglichst eindrucksvoll in Sprache fasst, um
auf den Leser Einfluss nehmen zu können bzw. an ihn zu appellieren.
Mit seinem sensiblen sprachlichen Stil ist ihm auch das schnörkellos,
ohne jede Überladung gelungen.
II.4 Die Handlung
"Die Geschichte beginnt schon vor der ersten Seite. Und wie viele andere
auch, hört sie jenseits der letzten auf. Vielleicht auch
nie."10 Die Erzählung,
welche lediglich einen kurzen Zeitraum umfasst (einige Tage im Winter), wird
von zwei Handlungssträngen durchzogen, die gleichberechtigt nebeneinander
stehen und die Geschichte wechselseitig bereichernd aufbauen:
Handlungsstrang Nr.1 beinhaltet die Darstellung einer schwerwiegenden
Lebenssituation der Schülerin Sarah in der erzählten Gegenwart,
welche in personaler Erzählhaltung dargestellt wird.
Handlungsstrang Nr. 2 umfasst die Tagebucheintragungen der Lehrerin in Form
der Ich- Erzählung. Die Figur der Lehrerin tritt hierbei doppelt auf:
einmal als sich- erinnerndes Ich (Vergangenheit: Geschehnis 20 Jahre zuvor),
das dieses Erlebnis sozusagen schrittweise aufarbeitet und dem Leser
gefühlsmäßig vermittelt, zum anderen als erlebendes Ich auf
der Geschichtsebene (Gegenwart: Sorge um ihre Schülerin Sarah und der
Versuch eigener Problembewältigung).
Am Ende ist die Gegenwart des Erzählens schließlich erreicht:
Erlebendes und erzählendes Ich vereinigen sich zu einem Ich.
Die zunächst parallel verlaufenden Handlungsstränge (Gegenwart
Lehrerin und Sarah-Vergangenheit Lehrerin) vereinigen sich nach der
Vergangenheits- und gegenwärtigen Problembewältigung und finden
einen gemeinsamen Abschluss.
Zwar ist die Handlung durch eine Vorgeschichte bedingt (die nach und nach
durch die Figurenrede beigesteuert wird), sie selbst aber ist ein Ganzes
mit Anfang, Mitte und Ende.
II.5 Die Gattung- der Jugendroman
Thierry Lenains "Das Mädchen am Kanal" wurde 1992 mit dem "Grand prix
du Roman Jeunesse" des Französischen Jugendministeriums ausgezeichnet
und war in der Kategorie Jugendbuch für den Deutschen Jugendliteraturpreis
2000 nominiert.
Literatur ist hier auf die Wirklichkeit bezogen, realistisch und grenzt sich
somit von phantastischer Literatur ab. Themenauswahl und Darstellungsweise
sind auf ein möglichst genaues Treffen möglicher Probleme von Kindern/
Jugendlichen ausgerichtet. Es geht um die literarische Entdeckung der kindlichen
realen Umwelt und schon bald sichtbar werdender sozialer Probleme. Es geht
um die Darstellung der Lebenswelt um Sarah.
Themen aus dem sozialen Umfeld von Sarah wie Elternhaus, Schule, Freizeit
werden aufgegriffen. Die Protagonistin Sarah soll als Identifikationsfigur
fungieren. Sie soll Kindern/ Jugendlichen Hilfestellungen bei spezifischen
schwerwiegenden Problemen geben, indem die Realität entsprechend dargestellt
wird.
Es handelt sich zudem um einen psychologischen Roman, weil der Blick ins
Innere kindlicher und erwachsener Protagonisten ebenso kennzeichnend ist
wie die Ich- Stabilisierung und Selbstfindung.
Laut Wilhelm Steffens11
erschließt der moderne psychologische Jugendroman existentielle
Krisen (bei Sarah und ihrer Lehrerin ("Ich kann nicht mehr!") ganz deutlich
erkennbar), Konfliktsituationen und Erschütterungen kindlicher Lebenswelten
(hier: der sexuelle Missbrauch Sarahs und ihrer Lehrerin vor 20 Jahren).
Thierry Lenain greift hier nicht nur ein "Modethema dieser Gesellschaft"
auf, sondern stellt äußerst überzeugend, kinderpsychologisch
feinfühlig dieses Problemfeld dar, mit eigenem Stil, einem eigenen
sprachlichen und narrativen Duktus. Die Darstellung des inneren Erlebens
kindlicher und partiell erwachsener Protagonisten ist somit das zentrale
Gestaltungselement dieser Gattung.
III. Die Figurenkonzeption- und -konstellation
Thierry Lenain hat die Figuren in "Das Mädchen am Kanal" übersichtlich
konzipiert. Bis auf Sarah bleiben sie ohne Namen, Alter und nähere
Beschreibung, also gesichtlos der Phantasie überlassen. Dadurch ist
die Geschichte frei übertragbar.
Die Begrenzung von Ort und
Zeit12 führt notwendigerweise
dazu, dass die Anzahl der im Geschehen verwickelten Figuren überschaubar
bleibt. Es wäre sonst schwierig, eine relativ straffe, thematisch-punktuelle
Handlung wie diese zu konstruieren. Der Blick ist personell wie thematisch
auf das Wesentliche gerichtet. Deshalb tauchen keine "unnötigen"
Nebenfiguren auf, welche die Erzählung ohne Relevanz ausschmücken
bzw. vom Wesentlichen ablenken würden. Vor allem durch die Untersuchung
der Figuren dieser Geschichte erfahren wir viel über den Inhalt, die
Problemstellung und die beabsichtigte Intention: die soziale Stellung, ihre
Art zu sprechen, die Eigenschaften und Ansichten, die jeweils in ihnen
verkörpert sind, die Konstellationen zueinander, ihr Handeln, ihr Erfolg
oder Misserfolg am Ende des Geschehens sind aufschlussreich.
"Das Mädchen am Kanal" schildert die Geschichte sexuellen Missbrauchs
aus Opfersicht, der Täter bleibt weitgehend im Hintergrund. Sein Innenleben
wird vor dem Leser nicht ausgebreitet. Die Erzählung um Sarah ist so
angelegt, dass der Leser für sie Partei ergreift, sich mit ihr
identifizieren kann, um den Transport der Intention zu gewährleisten.
III.1 Die Figurenkonzeption
Nachfolgend möchte ich die am Geschehen beteiligten Personen kurz skizziert
vorstellen:
Sarah, ein Opfer wird dem Leser gleich zu
Beginn13 als orientierungsloses,
nicht vor Kälte zitterndes Wesen mit fahlem Gesicht präsentiert.
Sie geht "woanders hin, nirgendwo hin." Sie ist nicht eins mit ihrem
Körper, fühlt sich wie ein Roboter. Wie ein Schatten eines Kindes,
"den niemand bemerkt
., der gerade ausradiert wird und der nach und
nach verschwindet." Sie hat ein mangelndes Selbstwertgefühl und fühlt
sich nicht gewollt.14 Im
Zusammenhang mit dem "Kanalmotiv" (in Verbindung mit der verstorbenen
Großmutter) erscheint sie als phantasievolles Mädchen, das sich
in Träumereien verlieren und darin flüchten kann.
Ihre Klassenlehrerin, ein weiteres Opfer präsentiert sich als besorgte,
vertrauensvolle Person, die Parallelen zu ihrer Schülerin entdeckt.
Sie wirkt sensibel, schreibt ihre Gedanken in einem Tagebuch nieder und ist
die Handelnde in dieser Erzählung. Sie will vor der eigenen, schrecklichen
Vergangenheit fliehen, findet dann aber doch die Kraft, der stumm leidenden
Sarah zu helfen und verbucht am Ende der Geschichte einen persönlichen
Erfolg.
Sarahs Mutter wird hart, sehr dominant, "entschlossenen Schrittes", "Frisur
wie immer perfekt" im "eleganten Kostüm"
dargestellt.15 Sie ist -aus welchen Gründen
auch immer- nicht in der Lage, die gravierenden Veränderungen ihrer
Tochter zu hinterfragen und stellt stattdessen Leistungsanforderungen.
Sarahs Vater wird
"schüchtern"16 im Schatten
der Mutter skizziert. Er liebt sein
Kind17 auf seine Art,
überlässt jedoch seiner Frau das "familiäre Tagesgeschäft".
Er hat Probleme, die "richtigen Worte" zu finden, er ist noch heute in dem
Schweigen gefangen, was zwischen seinen Eltern
herrschte.18
Über Sarahs Zeichenlehrer, den Täter erfährt der Leser nicht
viel. Stattdessen regen ahnungsvolle Hinweise die Phantasie an. Er wird als
ruhiger, angenehmer Mann mit tiefer Stimme, von der Sarah sich angezogen
fühlt, dargestellt.19 Der
Mutter vermittelt er den Eindruck, er sehe Sarah als
Tochter.20 Er wird gewaltfrei
skizziert, sieht seine Schülerin als sinnliche Muse, die er nicht verlieren
möchte.
Erwähnenswert ist auch die verstorbene Großmutter . Sarah sieht
sie in ihren gedankenverlorenen Tagträumereien als Zufluchtsort auf
der anderen Seite der
Sonne.21
Abschließend möchte ich die neue Puppe erwähnen, mit der
Sarah sich identifiziert (Sarah=Puppe), auf die sie ihr Schicksal
(Woo-Doo-ähnlich) projiziert. Sie sucht sich die Puppe mit dem
ausdruckslosesten Gesicht aus, verletzt diese Puppe und findet sich in ihr
wieder. Teils als Verbündete (Gesprächspartnerin) teils als
"Blitzableiter" zieht sich das Puppenmotiv durch die gesamte Erzählung,
die mit dem Fest-an-sich-Drücken dieser Puppe sogar endet.
III. 2 Die Personenkonstellation
Nachfolgend möchte ich die Verhältnisse der Figuren zueinander
skizzieren. Hieraus lässt sich sehr viel ablesen.
Sarah-Lehrerin: Hierbei handelt es sich um ein vertrauensvolles
Verhältnis. Die Lehrerin sorgt sich um Sarah, versucht vergeblich die
Mutter aufmerksam zu machen, gibt ihr schließlich Nachhilfe. Als einzige
versucht sie Sarah zu verstehen, sieht sich in
ihr22, da ein gemeinsames
Schicksal sie verbindet. Sie hat Angst, ihr eigenes Schicksal auf Sarah zu
projizieren ("Ich werde verrückt! Sarah ist für mich nicht mehr
Sarah. Sie ist ich, ich vor zwanzig Jahren.") Zwanzig Jahre zuvor dachte
auch sie, der Kanal sei wegen ihr zugefroren und das Wasser könne nie
mehr zum Meer fließen.
Sarah-Elternhaus: Die Veränderungen der Tochter werden zwar
wahrgenommen, aber nicht ausreichend hinterfragt. Die Mutter fordert gute
Leistungen, fördert ihre Talente, auch ihr Zeichentalent. Die Sorge
der engagierten Lehrerin tut die Mutter als ungerechtfertigtes Einmischen
ab, "ihre häusliche Situation sei völlig in Ordnung". Die Fassade
muss aufrechterhalten werden. Die Mutter nimmt eindeutige Signale nicht wahr,
lässt es nicht zu, dass Sarah etwas nicht möchte und lehnt Widerstand
rigoros ab. Im Dialog mit ihrer Mutter fühlt Sarah sich "nichts wert
zu sein. Jemand zu sein, den man nicht haben wollte."
Der Vater, der charakterlich regulierend in das Familiengeschehen eingreifen
könnte, ist dazu nicht in der Lage. Für diese Schwäche, das
Schweigen nicht durchbrechen zu können, hasst er sich
manchmal.23
Sarah-Zeichenlehrer: Hierbei handelt es sich um die Opfer-Täter-
Konstellation. Sarah ist "seine Gefangene. Es bedurfte keines Kerkers, keiner
Ketten und keiner abgeschlossenen Tür . In ihrem eigenen Inneren war
Sarah ausbruchssicher
eingeschlossen."24 Sarah sieht
zunächst nicht das Verbrechen und die Verantwortungslosigkeit ihres
Zeichenlehrers. Sie gibt sich die Schuld. "Weil sie es mochte. Sie ist an
allem schuld. Man wird sie bestrafen."
Sie mochte "seine Stimme. Davon
bekam sie eine
Gänsehaut."25 Ihre
Sprachlosigkeit hat den Täter geschont.
Diese drei Personenkonstellationen bestimmen im Wesentlichen die Handlung.
Es handelt sich um die engsten Bezugspersonen in Sarahs Leben. Mit ihnen
verbringt sie die meiste Zeit. Durch die unterschiedlichen "Qualitäten"
der Beziehungen untereinander baut sich ein ungeheures Spannungsfeld auf,
welches am Ende der Erzählung durch die intensive Beziehung Sarah-Lehrerin,
indem die Lehrerin also aktiv wird, zur Auflösung gelangt.
III. 3 Thematische Aspekte
Es ist unbestritten, dass die Intention des "Mädchens am Kanal" auf
den thematischen Aspekt "Sexueller Missbrauch von Kindern" abzielt. Diesen
Anspruch möchte ich auch auf keinen Fall schmälern. Dennoch hat
diese Geschichte noch weitere vielschichtige und diskussionswürdige
Themenbereiche zu bieten:
Sprachlosigkeit und Schweigen in bestimmten Situationen sind interessante
Phänomene, die durchaus in diesem Zusammenhang thematisiert werden sollten.
Sarahs Elternhaus (Vater und Mutter) lädt dazu ein, Ursachenforschung
zu betreiben. Interessant sind die Auswirkungen des Elternverhaltens auf
ihre Tochter. Ist Sarah magersüchtig? Sie versteckt Pausenbrote unter
der Schulbank.
Das Schuldmotiv bietet eine weitere Herausforderung. Warum fühlt Sarah
sich schuldig? Warum erkennt sie nicht das Vergehen an ihrer Person? Warum
hat sie das teilweise gemocht und als angenehm empfunden?
IV. Rezeptionen
Nach Lektüre und Bearbeitung des vorliegenden Romans stieg meine Neugier
darauf (gerade auch im Hinblick auf Einsatzmöglichkeiten im
Deutschunterricht), wie jugendliche Leser die Geschichte "bewerten" und
rezensieren. Im Internet fand ich einige Stellungnahmen, die ich nachfolgend
auszugsweise präsentieren möchte:
Kruemelchen2001sUrteil (Ciao. Wissen, was gut ist), 12 Jahre
Pro: Man kann sich richtig in die Person versetzen
Kontra: zu kurz!
"Das Buch ist ziemlich kurz, aber trotzdem ist es total gut. Vor allem für
Leute, die nicht viel lesen ist das ein gutes Buch. Man kann sich an den
meisten Stellen des Buches richtig in die Lage der Kleinen versetzen und
erleben, wie schrecklich es sein muss, von seinem Lehrer missbraucht zu werden.
Man denkt, das kommt gar nicht so oft vor, aber da täuscht man sich
gewaltig. Man glaubt gar nicht wie viele Schülerinnen betroffen sind.
Ich finde, diese Lehrer müssen lebenslänglich bekommen. So ein
Erlebnis hat noch lange Folgen."
Kritik der Pius-Schülerinnen, Verena Brinks, 14 Jahre:
"Das Buch handelt von Missbrauch, was ich sehr realistisch finde, weil besonders
in den letzten Jahren viele solche Fälle aufgetreten sind und so vielen
Lesern gezeigt wird, was es auch für Schattenseiten im Leben gibt.
Die Probleme des Buches sind, dass Sarahs Eltern sich nicht um sie kümmern
und sie sich dadurch bei ihrem Zeichenlehrer geborgen fühlt und denkt,
dass das, was er macht, erlaubt ist und sie deshalb nichts davon erzählt.
Ich kann mich nicht ganz mit Sarah identifizieren, weil ich bei Missbrauch
eher mit meiner Mutter als mit meiner Lehrerin sprechen würde und vor
allem würde ich früher darüber sprechen und nicht alles in
mich reinfressen. Außerdem würde ich mich versuchen zu wehren,
allerdings ist Sarah ja ein wenig jünger als ich, deshalb könnte
es sein, dass ich in dem Alter auch anders gedacht hätte oder auch nicht.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass, wenn ich Mutter bin, mir nichts
auffällt, wenn meine Tochter sich so rapide verändert.
Mit der Lehrerin kann ich mich ebenfalls nicht identifizieren, weil ich so
ein Erlebnis nicht verdrängen könnte und darüber sprechen
würde.
Der Vater von Sarah redet nicht mit ihr, weil seine Eltern auch nie mit ihm
geredet haben, aber am Ende überwindet er sich und sagt ihr, dass er
sie lieb hat. Das finde ich sehr gut, weil sie so erfährt, dass ihre
Eltern sie doch gern haben und nicht sauer sind, weil sie auf der Welt ist.
Man konnte den Text gut verstehen, weil auch nicht viele Fremdwörter
benutzt wurden. Aber ich finde, dass es eher für ältere Schüler
(13-15 Jahre) geeignet wäre, da es keine Bildanteile hat. Und weil die
Thematik für die Jüngeren zu schwer zu verkraften ist. Ich finde,
das Buch ist sehr leicht zu verstehen. Ich meine aber, dass das Buch auch
im höheren Alter lesenswert ist. Es ist schnell durchzulesen."
Thorsten aus Saarbrücken, Vater:
"Es gibt Jugendbücher, die dieses Thema (sexueller Missbrauch) zu genau
aufgreifen und das finde ich teilweise zu extrem für Kinderseelen. Hier
wird nur angedeutet, das finde ich gut. Trotzdem ist es dem Leser möglich,
die Ausweglosigkeit der Situation nachzuempfinden."
IV. 1 Einsatzmöglichkeiten in der Schule
Ich finde es erstaunlich wie detailliert beide Mädchen die Geschichte
betrachtet und persönlich Stellung bezogen haben. Somit ist der Zweck
des Buches erfüllt. Als Erwachsener sollte man die Analyse- und
Aufnahmefähigkeit bzw. die Spitzfindigkeit von Kindern nie
unterschätzen. Meiner Meinung nach ist es deshalb im Medienzeitalter
angemessen, auch derartig heikle Themen im Unterricht sensibel zu behandeln.
Sicherlich ist das nicht in allen Klassengemeinschaften möglich. Bei
dieser Entscheidung ist das Fingerspitzengefühl des Lehrers gefragt.
Thierry Lenain baut seine Geschichte verantwortungsbewusst auf. Heutzutage
sollte man so realistisch sein und zur Kenntnis nehmen, dass Kinder
tagtäglich schonungslos im Medienbereich mit "Horrorgeschichten"
konfrontiert werden. Thierry Lenain hingegen schildert das Verbrechen nicht
im Detail in allen Einzelheiten, sondern gibt lediglich ahnungsvolle Hinweise.
Im Kontrast zu nüchternen Fernsehreportagen über sexuellen Missbrauch,
die dem abgestumpften Zuschauer präsentiert werden, gibt er dem Leser
die Möglichkeit, das Erlebte nachzuempfinden. Hier bieten sich szenische
Interpretationen an, worauf ich im Folgenden noch näher eingehen werde.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich durch diese Methode Schüler erstaunlich
gut und schnell mit Protagonisten identifizieren können. Gerade bei
der Thematik "Sexueller Missbrauch" sollte der Augenmerk auf Emotionen und
Sensibilität gelegt werden. Es ist für jeden Einzelnen wichtig,
mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Es wäre schön, wenn
aus solchen Unterrichtsprojekten automatisch Präventivmaßnahmen
werden würden. Das erachte ich als sehr viel sinnvoller, als junge
gefährdete Menschen "unter der Käseglocke" von der Realität
fernzuhalten.
"Das Mädchen am Kanal" ist schwerlich einer Altersgruppe zuzuordnen.
Betroffenen Kindern ist sie womöglich ab 12 Jahren, ansonsten nicht
vor 14 Jahren zu empfehlen.
IV. 2 Methoden der Unterrichtsgestaltung
1. In diesem Fall bietet sich eine Klassenlektüre (Klassen 8-10) an.
Je nach Klassenstruktur könnte man den Jungen ersatzweise ein entsprechendes
Buch mit männlichem Protagonisten anbieten, aber eigentlich eignet sich
die Erzählung sowohl für weibliche als auch für männliche
Jugendliche. Eine Altersbegrenzung nach oben hat der Roman auf keinen Fall.
Aufgrund der brisanten Thematik und um jegliche Bedenken seitens der Eltern
auszuräumen, würde es sich anbieten, den Eltern ebenfalls die
Lektüre der relativ kurzen Geschichte nahe zu legen. In der Erzählung
wurde schließlich deutlich, wie wichtig das Verständnis im Elternhaus
ist. Somit hätten die Schüler sowohl in der Schule als auch im
Elternhaus kompetente Gesprächspartner. Neben der Thematisierung des
sexuellen Missbrauchs sollte man auch die anderen thematischen Aspekte wie
z.B "Schweigen" und "Verhältnisse im Elternhaus" mit in die Diskussion
einbeziehen.
2. Ebenfalls im Rahmen einer Buchvorstellung könnte man die Schüler
an das Thema heranführen. Ein oder mehrere Schüler könnten
z.B. nach Ferienlektüre Leseeindrücke vor der Klasse
präsentieren. Hierbei empfiehlt sich das Festhalten von Gedanken unter
der Fragestellung "Was empfinde ich bei bestimmten Textstellen während
der Lektüre?", also das Erstellen eines Lesetagebuches.
3. Thierry Lenain hat bis auf ein den tristen Umschlageinband auf Illustrationen
seiner Geschichte verzichtet. Warum hat er das Umschlagbild gerade so
gewählt? Wie würdet Ihr den Umschlag gestalten bzw. einzelne
Textsequenzen illustrieren? Kunstprojekt!
4. Der Schluss der Erzählung lädt dazu ein, die Geschichte weiter
zu führen. Wie könnte es in naher Zukunft weitergehen? Schreibe
ein weiteres Kapitel! Inszeniere das nächste Gespräch zwischen
Sarah und ihren Eltern bzw. Sarah und ihrer Lehrerin!
5. "Das Mädchen am Kanal" bietet sich in erster Linie für Szenische
Interpretation mit Erstellen von Standbildern an. Hier halte ich folgende
Szenen für geeignet:
Die Schüler sollen die Szenen selbständig erarbeiten und darstellen.
Mitschüler oder LehrerIn soll die Szenen an geeigneter Stelle unterbrechen
und jeden einzelnen Darsteller fragen, wie er sich im Augenblick fühlt.
Erfahrungsgemäß ist es erstaunlich wie schnell und tiefgründig
man sich mit der Rolle identifiziert! Gerade bei solchen Themenbereichen
ist es wichtig, Nachempfinden zu trainieren. Wer einmal etwas in einer bestimmten
Situation empfunden hat, kann später diese Situation, auch wenn Mitmenschen
sich in ihr befinden, besser einschätzen.
Die Szenische Interpretation bietet eine gute Grundlage, ein derart sensibles
Thema mit dem nötigen Fingerspitzengefühl zu behandeln und steht
für mich in diesem Zusammenhang an erster Stelle der anzuwendenden
Unterrichtsmethoden.
Fazit / Schlussbemerkung
"Das Mädchen am Kanal ist ein Buch, von dem man nur hoffen kann, dass
es stets rechtzeitig entdeckt wird, vielleicht in einer Bibliothek oder sogar
im Rahmen eines Unterrichtsprojektes, wo ein verantwortungsbewusster Umgang
mit dem Thema "Sexueller Missbrauch von Kindern" gewährleistet sein
sollte.
Einleitend stellte ich bereits die Frage, wem man zu welchem Anlass eine
derartige Geschichte schenken kann. Meine Antwort lautet (ich gebe zu erst
nach Bearbeitung der Geschichte): jedem Jugendlichen ab 14 Jahren, der mir
am Herzen liegt und darüber hinaus jedem Erwachsenen, der sich mit Kindern
und Jugendlichen umgibt.
Meiner Meinung nach handelt es sich um ein wichtiges Buch, das Kindern und
Eltern Mut zum Widerstand macht, wo er notwendig ist. Es macht Mut, das
selbstzerstörerische Schweigen, das die Täter schont, zu brechen.
Besonders empfehlenswert ist es für Väter und Mütter, die
genau hinsehen wollen und spezifische Verhaltensweisen und Veränderungen
ihrer Kinder nicht als Angriff gegen sich selbst interpretieren.
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Anmerkungen
1 Thierry Lenain: Das Mädchen am Kanal. Frankfurt
a. M.: Fischer Tabu Verlag 1999. 75 S. ISBN 3-596-85049-5. - Nur noch
antiquarisch, z.B. http://www.amazon.de
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2 Lenain, Thierry: "Das Mädchen am Kanal", Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1999, S.9. - Zurück zum Text
3 Vgl.ebd. S.24. - Zurück zum Text
4 Vgl. ebd.S.18. - Zurück zum Text
5 Vgl.ebd.S.37. - Zurück zum Text
6 Vgl.ebd.S.54f.. - Zurück zum Text
7 Vgl.ebd. S.44. - Zurück zum Text
8 Vgl.ebd. S.20f. - Zurück zum Text
9 Vgl.ebd. S.60. - Zurück zum Text
10 Vgl.ebd. S.9. - Zurück zum Text
11 Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Band 2, S. 308 ff. - Zurück zum Text
12 Birgit Stumpf: Studium der Neueren Deutschen Literatur. OPS Verlag München, 1995. S.26ff.. - Zurück zum Text
13 Vgl.ebd. S.9. - Zurück zum Text
14 Vgl.ebd. S.25. - Zurück zum Text
15 Vgl. ebd. S.24. - Zurück zum Text
16 Vgl. ebd. S.15. - Zurück zum Text
17 Vgl.ebd. S.73. - Zurück zum Text
18 Vgl.ebd. S.28. - Zurück zum Text
19 Vgl.ebd.S.60. - Zurück zum Text
20 Vgl.ebd. S.16. - Zurück zum Text
21 Vgl.ebd. S.18. - Zurück zum Text
22 Vgl.ebd.S.37 und S. 43. - Zurück zum Text
23 Vgl.ebd.S.28. - Zurück zum Text
24 Vgl.ebd.S.62. - Zurück zum Text
25 Vgl.ebd. S.71. - Zurück zum Text