Erdkunde
Wie der Autor das Fach sieht.
Christoph-Joachim
Schröder
In: Manfred Huth / Christoph-Joachim Schröder (Hg.):
Hits für den Unterricht. Bd. 3. Das schnelle Nachschlagewerk für
die Fächer Erdkunde, Musik, Sport und Arbeitslehre. Reinbek: Rowohlt
1991. S.
143-147.
Daß die standesinteressierten Klagen von Fachvertretern, Erdkunde habe
nicht mehr die rechte Bedeutung wie ehedem im Kanon des schulisch Wissens-
und Lehrenswerten, nicht ganz aus der Luft gegriffen sind, zeigt ein Blick
in die Stundentafeln: Auf manchen Schulstufen wird das Fach halb- oder
ganzjährig überhaupt nicht unterrichtet und an Gesamtschulen hat
es seine Eigenständigkeit durch Aufgehen in "Weltkunde" oder
"Gesellschaftslehre" weitgehend verloren.
Auch die Bemühungen der Fachdidaktik im Zuge der Schulreform der siebziger
Jahre, durch Neuansätze die Schulgeographie modernitätsfähig
zu machen, belegen den Relevanzverlust: Man erhoffte sich eine Neubelebung
von der Ersetzung der alten Länderkunde mit dem Schwerpunkt
natürlicher "physischer" Raumgegebenheiten durch thematische Geographie
mit dem Schwerpunkt sozialer Bezüge. Dabei suchte man die studentenbewegte
Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz durch die Konzeption der
"Daseinsgrundfunktionen" aufzufangen. Ob eine derartige Umfunktionierung
des Faches in einen schulischen Vorlauf technokratischer, staatlicher
Planungsdisziplinen sinnvoll oder erfolgreich sein würde - diese Frage
hat sich mit der konservativen schulpolitischen Wende erledigt. Heute, nach
der Wiederbetonung der Prüfungs- und Selektionsfunktionen unter der
Tarnbezeichnung "solides Grundwissen", geben sich die didaktischen
(Neu-)Ansätze eher kraftlos. Ob das Zurückdrehen von
Reformansätzen als Rückkehr von den garstigen Extremen zur goldenen
Mitte unter dem Titel "thematische Geographie am regionalen Leitfaden" geschluckt
wird, ob Erdkunde als Integrationsfach plötzlich die Tugend der
Zusammenfassung auseinanderdriftender Spezialdisziplinen zugeschrieben wird
oder ob im Begriff "Umwelt" ein neuer Rettungsanker erscheint - der
Rückzugscharakter des Faches ist nicht zu leugnen.
Altlasten
Ein kurzer Blick zurück auf die Fachvergangenheit mag erklären
helfen, warum es nicht mehr einfach weitergeht und warum sich eine
vernünftige fachdidaktische Legitimation so schwer tut.
Die geographische Erkundungsunschuld ist verloren. Der Heimatgedanke war
immer auch Verbrämung nationaler Selbstsucht, das Entdecken der weiten
Welt immer auch Verschleierung kolonialistischer Bemächtigung. Uns mag
heute unmöglich erscheinen, Hunger in Afrika in Verbindung mit
fortschreitender Ausbreitung der Wüsten als "Kampf des Menschen mit
den Naturgewalten" oder ein Staudammprojekt in Brasilien als "Inwertsetzung
des Raumes" zu thematisieren. Analoges ist auf dem Rohstoff- und Umweltgebiet
festzustellen. Der Raubbau am Fischreichtum der Ozeane durch industrielle
Fangtechnologie kann nicht mehr nur gefeiert werden nach dem Motto "Wie die
Menschen an der Küste ihr Arbeitsleben erleichtern" oder die Atomtechnologie
als ein Sich-Versorgen mit nichtfossilen Brennstoffen.
Solange freilich die geographische Fachperspektive nur als Kurzsichtigkeit
diagnostiziert und durch Einbeziehung von ungewollten Nebenfolgen und "Problemen
bei der..." therapiert werden soll, bleibt unseren Schülern die
Unterstützung ihres Kampfes um eine menschenwürdige Zukunft durch
Bildung vorenthalten.
Das hat selbstverständlich auch etwas mit willfähriger
Untertanenhaltung von Erdkundelehrern und -hochschullehrern zu tun, die etwa
Reklamesprüche von Landespolitikern nachbeten, die ihre Region als
attraktiven Standort internationalen Konzernzentralen andienen ("Der Ostseeraum
als Wirtschaftsraum des Nordens", "Berlin als Drehscheibe zwischen Ost und
West") bzw. regionale Verödungen durch Investitionsverlagerungen
rechtfertigen wollen ("das fehlende Hinterland", "die Hafenkonkurrenz zwischen
Bremen und Rotterdam", "die Verkehrsachsen"). Daß es günstige
und ungünstige Raumbedigungen geben kann, soll gerne zugestanden werden
- aber sie spielen in unseren reichen Industriestaaten mit ihrer ungeheuren
Kapitalmobilität eine sekundäre und oft nur ideologische Rolle
als argumentative Trumpfkarte im politischen Pokerspiel. Schüler
durchschauen das! Sie kennen die immense landwirtschaftliche Überproduktion
und lassen sich die Verteilungsschlachten der Ernährungsprofiteure nicht
als "Problem des Sichversorgens" verkaufen. Sie wissen, wie überreich
unsere Gesellschaft ist und daß das sogenannte Problem der "sicheren
Renten qua Generationenvertrag" mit Sicherheit nichts mit der in
Bevölkerungspyramiden sich ausdrückenden Gebärfreudigkeit
deutscher Frauen zu tun hat. Und sie wissen auch, daß die Wiedervereinigung
ein ideologischer Wunschtraum älterer Herren war, dessen
überstürzte Erfüllung massive Kosten erbracht hat. Mit einer
Zuwendung zu den drängenden Epochenproblemen hat die deutsche Einheit
nichts zu tun und es wäre fatal, wollte der Erdkundeunterricht unseren
Schülern ihr - berechtigterweise - mangelnde Interesse an den Resultaten
konservativer Politikerhast durch einen Beschäftigungszwang mit den
neuen Bundesländern austreiben.
Solcherart Geographie im Fahrwasser des politischen Geschäftes -
Paradebeispiel ist der inzwischen abgehalfterte "Ost-West-Vergleich" - ist
allerdings nur die Erscheinung eines tieferliegenden Mißstandes, der
mit der ideologischen Leitkategorie "Raum" zu tun hat, welche Entpolitisierung
nicht nur zuläßt, sondern selbst erzeugt. Wer sich
Erdkundebücher, Fachzeitschriften oder Unterrichtsmaterialien anschaut,
dem fällt auf, daß die das Geschehen wirklich antreibenden
Kräfte verborgen bleiben: Wer sind die Gewinner und wer die Verlierer?
Wer lebt wie auf wessen Kosten? Wie leiden Menschen und wie wehren sie sich?
Wie werden Einzelinteressen als Gemeinwohl maskiert? Wie sehen die konkreten
Korruptionswege in einer Region aus? Wer sind sind die namentlich
Verantwortlichen Umweltverbrecher in den Chefsesseln von Unternehmen? usw.
Bei dieser Grundfrage, ob sich Erdkunde als ein Fach verstehen will, daß
die politischen Triebkräfte und Interessen hinter der Verschleierung
" Mensch setzt sich mit Raum auseinander" aufdecken und so für ein
realitätsgerechtes politisches Eingreifen bewußt machen will,
ist es dann gleichgültig, ob regional oder thematisch vorgegangen wird.
Gerade die moderne "Daseinsgrundfunktionen"-Didaktik ist ein Musterbeispiel
für Ideologieproduktion. Abgesehen davon, daß ihre Auszeichnungen
reichlich beliebig erscheinen (ein Marxist würde die gründlichste
Grundfunktion "Klassenkampf" und ein Humanist die wichtigste Grundfunktion
"Selbstbestimmung" vermissen; ein liberaler Psychologe würde die Kategorie
der "Fortpflanzung" durch "sexuelle Lust" ersetzen wollen usw.), wird der
Schüler hier in die Rolle eines Planungstechnokraten versetzt meist
unter der realitätsblinden Maßgabe, er solle später einmal
kompetent mitentscheiden. Aber in kapitalistischen Staaten ist die Macht
des Staates und damit vernünftiger, gemeinwohlorientierter Planung durch
das Druckmittel der "Arbeitsplätze und Steuern" (der Möglichkeit
Betriebe zu verlegen, Investitionen im Ausland zu tätigen usw.) minimal.
Vielmehr wird ein Schein staatlicher Daseinsvorsorge aufrechterhalten und
dahinter tobt der Interessenkampf der Geschäftemacher (in den ehemaligen
"realsozialistischen" Staaten tobte hinter dem gleichen Schein der
Interessenkampf der Parteiprofiteure). Das Ergebnis eines Erdkundeunterrichtes,
der die politische Interessenperspektive durch eine der technischen Planung
ersetzt, wird aber engagementsbereite, naiv gemachte Schüler in offene
Messer der Realität laufen lassen. Die Resignation oder die Konsumflucht
sind dann fast unausweichlich.
Briefträgergeographie
Unter diesem etwas abfälligen Titel präsentiert sich ein den Kulturtechniken zuzuordnender Bereich des Erdkundefaches, der von einer kritischen Bestandsaufnahme unberührt bleibt: Städte, Flüsse und Länder muß man einfach kennen, um die täglichen Nachrichten zu verstehen. Daher ist die "Briefträgergeographie" als notwendige Bedingung selbstverständlich vorausgesetzt in der nun folgenden kurzen Perspektivenskizze.
Chancen
Wer die aktuellen fachdidaktischen Diskussionen verfolgt, wird von Universität oder Kultusbürokratie keine Reform zum besseren erwarten. Aber gerade dies ist eine Chance für eine gute Schulstubenpraxis, die den Erdkundeunterricht konsequent als primär politisches Fach begreift. Denn da die Epochenprobleme sich unabdingbar melden, können sie auch nicht ausgeblendet werden. Dabei eröffnet gerade der Bedeutungsverlust des Faches Freiräume und die Tatsache, daß man "den Raum" interpretieren kann als "die zusammenwachsende Eine Welt", läßt fast jedes politische Thema zu: Kriege und ihre Ursachen überall auf der Erde, Rüstungsexporte, Diktaturen und Revolutionen, Kampf um Menschenrechte, Putsche, Ausbeutung, Imperialismus, internationale Arbeitsteilung, Flüchtlinge, Genozid, innerstaatliche Reichtumsverteilung, Umweltzerstörung, Energie, Hunger durch Geschäftemacherei, Frauenemanzipation, Kindersituation und Kinderrechte, Müll, Autowahnsinn, Mächtige und Ohnmächtige, Solidarität, sich Wehren und um Rechte kämpfen, Befreiungsbewegungen, Bürgerinitiativen, Bevormundungsideologien, Rolle von Kirchen und Religion, Sexualität in fremden Kulturen, Kindererziehung anderswo usw. Und weil der Erdkundeunterricht jedes Thema zuläßt, das in internationaler Perspektive thematisiert werden kann, vermag er über den Umweg der internationalen Betrachtung sogar den eigenkulturellen Sozialkundeunterricht dort zu unterstützen, wo Tabuzonen betroffen sind. Der vergleichende Bezug "Und wie sieht es bei uns aus?" läßt sich dann nicht umgehen, weil unsere Schüler ihn einbringen, nicht wahr?
Entscheidend bei allen diesen Themen ist allerdings die Art und Weise der Behandlung: Ob aus der Sicht sozialtechnischer Planung, die vor allem Hochnäsigkeit erzeugt, oder aus der Sicht der Betroffenen, der Leidenden und sich Wehrenden. Die Frage "Wo und wie kommen die lebendigen Menschen mit ihren Schwächen, Nöten, Sorgen, Freuden, Hoffnungen, Zielen und Stärken in meinem Unterricht vor?" ist ein handhabbarer Maßstab.
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