Manfred Huth / Christoph-Joachim Schröder
In: Manfred Huth u.a.(Hg.): Hits für den Unterricht.
Bd. 2. Das schnelle Nachschlagewerk für die Fächer
Geschichte und Sozialkunde/Politik. Reinbek: Rowohlt
1989. S.
17-23.
Bei den universitären Geschichtsdidaktikern und in den neueren Lernbuchwerken hat die "alte" Geschichtsauffassung abgedankt: daß Weltgeschichte sich an glänzenden Persönlichkeiten, vorzüglichen Männern festmachen lasse, die man verehren, moralisch verurteilen oder anekdotisch vermenschlichen müsse; daß es um eine Abfolge von Kriegen, Friedensschlüssen, Haupt- und Staatsaktionen gehe; daß alles auf unser jetziges Staatswesen als beste aller möglichen Welten herauslaufe; daß einer neuer Zeitgeist aus dem Nichts entstehe oder aus abgründiger Tiefe von großen Denkern in die Welt gesetzt werde; daß Institutionenkunde bei SchülerInnen Geschichtsbewußtsein erzeuge.
Das alles also läuft so nicht mehr. Man fragt schon mal nach ökonomischen Bedingungen, sozialen Bewegungen, Strukturen, Mentalitäten, Konflikten, Interessen, Macht, Herrschaft und Ideologien. Die StudentInnenbewegung, vor allem aber die Herausforderung durch den Marxismus - in der Gestalt des klassischen Historischen Materialismus oder der Ideologiekritik der Frankfurter Schule - hatten die GeschichtsdidaktikerInnen aus ihrem dogmatischen Schlummer geweckt. Aber aus guten An- und Vorsätzen hat sich keine überzeugende geschichtsdidaktische Konzeption auf der Höhe der Zeit herausgebildet. Im Gegenteil - geschwächt durch konservative Attacken und Bonner Wende ist es bei einem disparaten, weil so kaum angreifbaren Gewusel von Einzelideen geblieben, wurden Ansprüche unnötigerweise zurückgenommen, kreisen die Diskussionen unverbindlich um das methodische Für und Wider von Quelle, Darstellung bzw. LehrerInnenerzählung.
Um unsere Position zu verdeutlichen, beschreiben wir zunächst kurz Trends, denen wir uns nicht verpflichten:
Kriterien für die folgenden Empfehlungen
ergeben sich aus unserer Auffassung von Geschichte und Geschichtsunterricht. SchülerInnen sollen eine handlunsorientierende Antwort auf die Frage erhalten: "Wie ist es zu der gegenwärtigen Problemsituation gekommen, in der ich mich befinde und für meine Interessen kämpfe, und wie sieht der Traditionsstrang der Befreiungsbewegung aus, in dem ich stehe und in den ich mich bewußt stelle?" Man könnte unser Ziel "Historisches Problembewußtsein" nennen, wozu das Wissen gehört: daß die Welt geschichtlich geworden, von Menschen gemacht und veränderbar ist; daß es bei den politischen Ereignissen der Vergangenheit um Kämpfe zwischen Unterdrückern und Unterdrückten geht; daß man nach Gründen (bzw. Interessen) für Handlungen fragen muß; daß einem die Fragen "Wem nützt das?" und "Aus wessen Kosten geht das?" meistens die Hintergründe enthüllen; daß es heute wie früher darum geht, aktiv Stellung zu beziehen gegen Privilegien und Unterdrückung, gegen Dummheit und Irrationalismus, gegen Gleichgültigkeit und Menschenfeindlichkeit.
Dazu kommt das wichtige Lernziel der Ideologie- und Quellenkritik: nicht einfach zu schlucken, was irgendwo behauptet wird.
Ein berechtigter Einwand liegt nahe: Die soeben gegebene recht formale Auflistung taugt allenfalls zur Abgrenzung von der zu Anfang skizzierten "alten" Geschichtsauffassung und die Skizze der für problematisch gehaltenen Trends weist nur vage darauf hin, daß an einer kollektiven Fortschrittsidee festgehalten wird. Es muß also noch in einem letzten Schritt erklärt werden, inwieweit unsere Konzeption nicht ein Stehenbleiben bei der Emanzipationsdidaktik - sei es des traditionellen Historischen Materialismus, sei es der Frankfurter Schule - ist. Wir nennen unsere Folgerungen aus den aktuellen politischen Prozessen
Geschichtsunterricht für Eine Welt.
1. Blickt man nicht nur auf den Vorgang der Eingliederung der DDR in das bundesdeutsche Wirtschaftsgebiet, erkennt im Hintergrund der Leipziger Wende die Perestroika-Politik von Gorbatschow. Darin wird u. a. die Last von den Schultern der Sowjetunion und des ganzen Ostblocks genommen, die welthistorische Rolle des Proletariats zu erben und auf Menschheitsebene eine klassenlose Gesellschaft herbeizuführen. In den letzten Jahren wurde dieser grundlegende politische Konzeptionswandel unter Marxisten diskutiert als "Vorrang der Gattungsfrage vor der Klassenfrage". Grundgedanken dabei sind, daß einerseits durch Anhäufung der Probleme auf den Gebieten "Atomkriegsgefahr", "Umwelt" und "Trikont" (incl. Armut, Rassismus, Flüchtlinge) eine Abkoppelung von dem Problem des richtigen Produktionssystems überlebensnotwendig ist und andererseits als Folge des Zusammenwachsens der Welt alle Menschen (auch Herrschende) von den Übeln bedrängt werden und die Probleme nur duch Einbeziehung der Kräfte und Anstrengungen aller Nationen/Menschen lösbar sind. Die Katastrophen von Auschwitz, Hiroshima und Tschernobyl betrafen die Menschheit, waren keine Privatsache einer Nation oder einer Klasse. In Zukunft wird es Eine Welt oder Keine Welt geben. Daraus folgt: der Geschichtsunterricht muß die (historische) Interdependenz der Einen Welt zur Sprache bringen. SchülerInnen sollen erkennen, wie es zu den drängenden Menschheitsproblemen gekommen ist und was man dagegen tun kann. Deshalb erhält der gesamte Themenkreis "Faschismus" in unseren Empfehlungen ein großes Gewicht, da in ihm viele Menschheitsprobleme (Kriegsverwüstungen, Eroberung und Unterwerfung zu Ausbeutungszwecken, Unterdrückung und Ausmerzung des Schwachen bzw. Fremden) exemplarisch kombiniert sind. Außerdem haben wir das Thema "Trikont" durch ein gesondertes Materialpaket akzentuiert, damit das Elend der III. Welt nicht nur von der Warte des Mitleid/Helfenwollens betrachtet, sondern (historisch) erklärt wird, was dies mit uns zu tun hat. Und es soll die abendländische (Europa und USA) Geschichtsperspektive durch Kenntnis der eigenständigen Historien anderer Völker, Kulturkreise und Kontinente erweitert werden, damit keine Mischung aus arroganter Besserwisserei und Abwehr gegenüber Fremdem bzw. berechtigten Lebensansprüchen anderer Menschen und Kulturen am Ende des Unterrichtes steht. Leider ist der Komplex "Umwelt" kaum berücksichtigt. Hier fehlen Unterrichtsmaterialien, die Wirtschafts- , Wissenschafts- und Technikgeschichte durch Bezug auf Ökologie als Kernpunkt neu strukturieren.
2. Welchen Stellenwert hat von dem Bezugspunkt "Eine Welt" aus die Gliederung der Geschichte in Epochen? Ist der formationsbezogene Ansatz des Historischen Materialismus mit seiner Betrachtung der Geschichte als "Geschichte von Klassenkämpfen" erledigt? Wir sind davon nicht überzeugt und bringen dies durch unsere Epochenbegriffe zum Ausdruck, die "Feudalismus" statt "Mittelalter" lauten und "Sklavenhaltergesellschaft" statt "Altertum". Dennoch meinen wir - aus Platzgründen können wir das nicht ausführlich begründen, sondern nur als Position beschreiben - daß man einer Definition des geschichtlichen Fortschritts als Befreiung der Produktivkräfte von sie fesselnden veralteten Produktionsverhältnissen zwei eigenständige Fortschrittsstränge zufügen muß: die Geschichte des Bewußtseins von Freiheit als systematische Erweiterung der Sphäre der Selbstbestimmung (Stichwort "Menschenrechtsebene") und die Geschichte von der abergläubischen Unterwerfung unter transzendente Mächte hin zur illusionslosen, wissenschaftlichen Realitätsgestaltung (Stichwort: "Religionslosigkeit"). In welches Verhältnis genau die drei Entwicklungslinien zu setzen sind, muß hier offen bleiben. Aber daß die Kategorien des Historischen Materialismus wahrscheinlich allenfalls als notwendige Bedingung bzw. als Verwirklichungsmedium für Fortschrittsschübe aufgefaßt werden können und keineswegs mit der Beseitigung von Ausbeutungsstrukturen sich allseitige Demokratisierung (Menschenrechtsebene) und Realitätsbewußtsein (Religionsebene) einstellen, wagen wir jetzt schon zu sagen. Daraus folgt, daß wir Materialien z. B. zur Frauengeschichte oder auch zur Geschichte der Homosexualität als eigenständige Themen aufgenommen haben.
3. Ersichtlich betrachten wir Geschichte als Fortschrittsgeschichte. Und unser Bildungsziel ist es, daß die SchülerInnen am Fortschritt der Menschheit engagiert mitarbeiten wollen. Angesichts von Auschwitz, Hiroshima und Tschernobyl scheint es jedoch, als ob die Menschen das Lernfeld "Geschichte" keineswegs genutzt haben. Die Anhäufung von Atomwaffenlagern, Hungerkatastrophen und Umweltverseuchung als Ergebnis unseres Fortschritts ist wenig ermutigend. So machen sich bei vielen Menschen, bei GeschichtswissenschaftlerInnen und -lehrerInnen Entmutigung und Skepsis breit, ist die Neigung zum Rückzug ins Private groß. Die Menschheitsgeschichte erscheint als sinnloser Kreislauf von Kriegen, Unterdrückung, Ausbeutung, als fortwährende Selbstzerstörungtendenz. Möglicherweise entsteht dieses deprimierende Bild aber durch die Neigung, Fortschritt allein zu fassen als technischen, naturwissenschaftlichen oder solchen der fortwährenden Anhäufung von Konsumgütern. Die Bilanz sieht nämlich anders aus, wenn man Fortschritt nicht auf der technisch-materiellen, sondern auf der politischen Ebene ansiedelt. Macht man sich klar, daß es sich bei dieser Ebene der Menschenrechte um eine Anspruchsebene handelt, deren Verwirklichung/Institutionalisierung zwar erkämpft werden muß, deren Auftreten als nicht mehr wegzudenkende berechtigte Forderung aber eine neue Stufe der Menschheitsentwicklung allein schon markiert, so wird man mit vollem Recht einen immensen Fortschritt in der Gattungsgeschichte auffinden können. Dies gibt unserer Sicht von Geschichte und vom Sinn des Geschichtsunterrichtes einen optimistischen Zug.
4. Wir plädieren mithin für die Vermittlung eines geschichtlichen Weltbildes, in das die SchülerInnen sich am Ende selbst einordnen können, einordnen in den Traditionsstrang der Menschen, die den politischen Fortschritt im Blick hatten und für ihn kämpften. Das bedeutet, daß wir nun unser Ziel "historisches Problembewußtsein" auch inhaltlich fassen können als Begriffssystem der wesentlichen Triebkräfte und Ereignisse, die zu unserer Gegenwart hinführen und Voraussetzungen der aktuellen Humanisierungsansprüche im Problemzusammenhang der Einen Welt sind. Da aber der Nutzen solchen Geschichtsbewußtsein SchülerInnen nicht unmittelbar und schon gar nicht zu Beginn des Geschichtsdurchganges - etwa in der 5. Klasse - einsichtig werden kann, kommt es darauf an, durch einen lebendigen Geschichtsunterricht dafür zu sorgen, daß unsere SchülerInnen gerne fortschrittliche Menschen werden. Das bedeutet: Wir müssen und methodisch große Mühe geben. Wenn sich die SchülerInnen auf Geschichtsstunden freuen und die Kämpfe um die menschliche Befreiung von Unterdrückung und Dummheit mit Spannung und Interesse verfolgen können, dann haben wir in den Grenzen unserer Klassenräume viel erreicht.
zurück zur Hedonismus-Startseite |