Hedonistische Endzeitdidaktik

Bildung und Unterricht nach Hiroshima und Tschernobyl
Vorschlag für eine didaktische Offensive


Manfred Huth / Christoph-Joachim Schröder

In: demokratische erziehung 12/1987, S. 15-21.
1. Nachdruck in: PT-intern, 8/1988, S. 6-10.
2. Nachdruck in: Manfred Büttner (Hg.): Neue Lerninhalte für eine neue Schule. Neuwied/Berlin: Luchterhand Verlag 1992. S. 77-89.


Die Arbeitsgruppe Oberkircher Lehrmittel - AOL - wird zehn Jahre alt, im Dezember 1977 wurde sie gegründet. Die A OL ist heute eine bundesweite Vereinigung von 150 Lehrerinnen und Lehrern, die aus der Tradition der 68er Studentenbewegung und nach dem Motto "Vorwärts und nicht vergessen" didaktische Materialien für alle Fächer und für den Schulalltag entwickeln. Die herkömmliche Fachdidaktik soll umgekrempelt werden, Kinder und Jugendliche sollen das Leben lieben lernen und so sich auch für Demokratie und Internationalismus einsetzen. Vom Horizont der möglich gewordenen Selbstvernichtung der Menschheit her stellen Manfred Huth und Christoph-Joachim Schröder vom HamburgerAOL-Zentrum ihre Überlegungen vor, wie eine neue didaktische Offensive auf der Höhe der Zeit aussehen kann.


1. Bei Betrachtung und Einschätzung der bildungspolitischen Gegenwartstendenzen in der BRD ergibt sich das Urteil "Stagnation". Die Impulse und Ziele der Bildungsreform der siebziger Jahre sind zurückgenommen worden: Aufhebung elitärer Bildungsschranken und Erziehung zum mündigen, politisch denkenden und handelnden Menschen. Statt dessen lauten die "Wendeziele": Rückkehr und Konzentration auf die alte Paukschule mit ihrer Zentralfunktion der Auslese und Abkehr vom Qualifikationsideal eines im weitesten Sinne politisch interessierten und kompetenten Menschens, der aktiv in die Kämpfe um den gesellschaftlichen Fortschritt eingreift.
Damit sind Schule und Unterricht eingebunden in das Konzept der Zweidrittelgesellschaft. Die oberen zwei Drittel, die im System drin sind, haben sich quasi in eine Burg zurückgezogen und ziehen die Zugbrücken hoch. Schule und Unterricht dienen dieser "Lösungsstrategie" unserer westlichen Krisengesellschaft.


2. Es sind auf dem bildungspolitischen Feld im engeren, institutionellen Sinne keine Änderungen der beschriebenen Tendenzen zu erwarten.
Und dies, obgleich angesichts des weltweiten Problemdruckes (Militarisierung; rasanter einseitig interessegeleiteter Technologieschub mit teilweise katastrophalen Auswirkungen: Umweltkatastrophen; Massenarbeitslosigkeit; Massenverelendung und Faschisierungstendenzen besonders in der 3. Welt) ein Aufrechterhalten und Weitertreiben der Schulreform überlebensnotwendig sind.
Wir gehen davon aus, daß ein Teil der Kollegen und Kolleginnen in den Schulen diese Einschätzung teilen und den blöden und verlogenen Optimismus von Reagan, Thatcher, Kohl und Co. als psychologischen Betrug durchschauen. Trotzdem sind sie institutionell zur im weitesten Sinne inhaltsleeren Paukschule verdammt, da von der Kulturbürokratie her keine inhaltlichen und nur geringe organisatorische Alternativen (Projektunterricht, Gesamtschule) zu erwarten sind. Andererseits führt u. E. angesichts der bildungspolitisch gewendeten Zielvorgaben und des fehlenden staatlichen Willens einer energischen Weiterentwicklung von Schule und Unterricht nur ein gangbarer Weg von der inhaltlich beliebigen Ausleseschule weg: über den konkreten Unterricht, den der einzelne Kollege durchführt und verantwortet. Das AOL-Projekt "X-Unterricht ganz anders" ist der Versuch, die staatliche Starrheit bzw. Wende zu unterlaufen und die Schule durch die alltägliche Praxis der einzelnen fortschrittlichen Kolleginnen und Kollegen zu verändern. Dabei haben die Fächer und ihre Didaktiken bzw. Lehrpläne eine Schlüsselrolle.


3. Dem allseits geteilten Anspruch "Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir" entspricht die Schulwirklichkeit in ganz geringer bzw. vereinzelter Weise. Wo stehen denn etwa wachsende Kriegsgefahr (in Norwegen gibt es ein Fach "Friedenserziehung"!), Umweltzerstörung oder die Befreiung der 3. Welt im Mittelpunkt der Bildungsprozesse? Welcher Lehrplan weist als oberstes Leitziel aus die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf ihre spätere Rolle als "flexible" Lohnabhängige bzw. Arbeitslose, die einem ständigen "Klassenkampf von oben" ausgesetzt sein werden? Wo steht im Mittelpunkt der Bildung das Erkennen von Lebensqualität und das Kultivieren von Bedürfnissen? Angesichts einer weltweit und in vielen Lebensbereichen düsteren Zukunftsperspektive käme es darauf an, in der Schule Ansprüche auf schönes Leben zu entwickeln, damit unsere Schüler und Schülerinnen sich nicht mit billiger Massenware abspeisen lassen und wissen, worum es sich zu leben und zu kämpfen lohnt!
Statt dessen blockieren vorgebliche Qualifikationen und Bildungsgüter die Erziehung zum lustvollen Anspruchsleben (als Ziel) und dem kollektiven politischen Handeln für die Interessen eines lebenswerten Lebens als Weg. Wir behaupten, daß etwa nach 6 Schuljahren diejenige Qualifikation des unmittelbar Nützlichen, um im Arbeitsprozeß dieser Gesellschaft und ihrem Genußprozeß (Bild, Dallas, McDonald's, Hitparaden) reibungslos funktionieren zu können, abgeschlossen sind. Darüber hinaus dienen die weiteren Stoffe der einzelnen Fächer der Auslese und Ablenkung vom Relevanten durch Beschäftigung mit sinnlosem Zeug. Jeder mag sich einfach einmal fragen, was er denn in seiner Schullaufbahn in ungeliebten Fächern alles in sich reingefressen hat und was er davon behalten hat. Wieviele Staubgefäße hat man gezählt, ins Heft gemalt und wieviele Klimazonentabellen von der Tafel ins Heft übertragen? Wieviel Zeit wurde vergeudet bzw. warum wird vieles Wichtige nicht gelernt, weil anderes durchgezogen wird? Denn mit der Entscheidung für bestimmte Inhalte wird ja immer zugleich Lernverbot über andere Stoffe erteilt. Wahrscheinlich könnte man die meisten SchüIer nach der 6. Klasse in den Arbeitsprozeß schicken, weil danach die Schule eh nur noch Aufbewahrungsort ist. Genauer: Unseres Erachtens hat die Sekundarstufe I ungeachtet ihrer (selbst)betrügerischen öffentlichen Reklame zwei Hauptfunktionen: erstens die Masse der zukünftigen Lohnabhängigen aufzubewahren, bis sie belastbar ist (nach den Erfahrungen von Kinderarbeit im 18./19. Jahrhundert vor allem in körperlicher Hinsicht), und zweitens sie durch Betriebsamkeit mit sinnlosem Zeug von den wesentlichen Bildungsanregungen fernzuhalten (Schüler sollen kein Anspruchsdenken und kein Problembewußtsein entwickeln).
Das Werkzeug und die Rechtfertigung für solcherart "Bildung" liefern die an bestimmten Einzelwissenschaften orientierten Schulfächer mit ihrer Fachstruktur bzw. ihrem inhaltlichen Kanon.
Wir stellen also die einzelnen Fachdidaktiken, ihre tradierten Inhalte (auch Methoden) und sogenannten "Bildungswerte" von den Gegenwartsproblemen und dem hedonistischen Anspruch auf niveauvolle Lebensqualität her radikal in Frage.


4. Das AOL-Projekt "X-Unterricht anders" versteht sich selbst als dringlicher, die Bedürfnisse vieler Kolleginnen und Kollegen treffender und als ein möglicher bzw. machbarer Weg gegenwärtiger Bildungsreform: Schulfächer bzw. ihre Didaktiken aufbrechen von den Gegenwartsthemen und -problemen her. Allerdings halten wir den Weg über Universität und Wissenschaft durch Anzetteln von nur didaktiktheoretischen Auseinandersetzungen für Kräftevergeudung. Ein derartiger Prozeß wäre zu langwierig und würde vor allem das Kräftepotential und die Praxisbedürfnisse der Kollegen und Kolleginnen vor Ort unberücksichtigt lassen.
Wieviel an Erneuerung liegt im einzelnen an Schulen, in Klassen, in Gewerkschaftsgruppen, bei einzelnen Lehrern usw. längst vor!
Das müssen wir an andere Menschen weitergeben, so daß es unbeachtet von den Argusaugen der Kultusbürokratie wie ein langsam wirkendes Heilmittel die alte Paukschule mit ihren sinnleeren (Ablenkungs-)Inhalten zersetzt. Wir schlagen also vor, in allen Schulfächern durch konkrete Unterrichtsvorschläge Schneisen in die schlechten Didaktiken zu schlagen. Diese Praxishilfen müßten sich auszeichnen durch Prolemorientiertheit, Themenorientiertheit und Projektorientiertheit. Ob dann im Laufe der Jahre die traditionellen Fächer wie Deutsch, Geschichte, Religion, Physik usw. überhaupt noch Bestand haben (weil sie sich als wandlungsfähig gezeigt haben), oder ob sie nach Durchlöcherung ihrer immanenten Fach"logik" und ihrer "Bildungswerte" zerbrechen und anderen "Fächern" (wahrscheinlich eher Themenschwerpunkten oder Lebens bzw. Problembereichen) Platz machen, ist jetzt noch nicht abzusehen, aber durchaus möglich. Dies wird sich beim Zusammentragen des Materials herausstellen.
Die jeweiligen praktischen Angriffe auf die Fächer in ihrer traditionellen Gestalt in Form von Unterrichtsalternativen sollten folgenden Maßstäben folgen:


5. Bevor wir im letzten, sechsten Abschnitt unsere Planungen zur konkreten Arbeit am Projekt "X-Unterricht anders" zur Diskussion stellen und zur Mitarbeit aufrufen - wollen wir noch eine Bestimmung im Rahmen der allgemeinen Didaktik vornehmen. Denn bislang sieht es so aus, als sähen wir uns lediglich als permanente Schulreformer, die in der Abkoppelung des Bildungssystems vom Beschäftigungssystem eine Chance für innere Schulreform erblickten. Das aber wäre eine verkürzte Sicht. Zwar spielt die Tatsache, daß heute überdeutlich geworden ist, welch geringe Bedeutung die materialen Unterrichtsgegenstände für die spätere Beschäftigung (für viele Kinder eh in dauer- bzw. teilzeitarbeitsloser) Perspektive haben, eine taktische Rolle. Die Kultusbürokratie ist weniger am Schulsystem interessiert, weil ein gesellschaftlicher Konsens darüber herrscht, wie unwichtig die allgemeine Bildung als Teil des Sozialstaates für die weltweite Staatenkonkurrenz ist (dies ganz anders als nur Zeit des "Sputnikschocks", der ja über die Diskussion der "Bildungskatastrophe" die Reformvorhaben im Bildungssystem veranlaßt hatte). Das gewährt mehr Bewegungsfreiheit für innere Schulreform von unten. Aber alles dies ergäbe nur die Möglichkeit von Veränderungen.
Wir sind darüber hinaus von der Notwendigkeit einer didaktischen Offensive überzeugt.

Unbestritten ist der Bezugspunkt für allgemeine didaktische Zielbestimmungen, insbesondere für die Auswahl der wesentlichen Gegenstände von Schule und Unterricht: die gesellschaftliche Situation. Sie ist aber, verglichen mit den didaktischen Konzeptionen herkömmlicher Prägung, radikal neu. Diese neue Qualität kann man in dem Ausdruck "Endzeit" zusammenfassen.
Um gleich ein Mißverständnis abzuwehren. Mit "Endzeit" ist nicht gemeint eine apokalyptische Stimmung des Die-Hände-in-den-Schoß-Legens und Sich-Vergnügens. Solche Politik des "Tanzes auf dem Vulkan" führen uns zwar Jetsetkreise vor, und manche unsere Schüler eifern in bescheidener Weise solchem Vorbild nach ("Ewig diese Probleme, immer Arbeitslosigkeit, Hunger in der 3. Welt, Atomkriegsgefahr, zerstörte Umwelt ... Ich will was vom Leben haben!"), indem sie sich in den Taumel der nächsten Diskothek stürzen. Aber Verdrängung der gegenwärtigen Schlüsselprobleme erscheint uns eher als perverse Strategie einer nekrophilen Intemationale. Sie kann nicht ernsthaft oberstes Bildungsziel sein.

Mithin sehen wir im Endzeitbewußtsein den Ausgangspunkt aller gegenwärtigen Didaktik: Die Menschheit befindet sich in der historisch neuen Lage, sich selbst vernichten zu können. Dabei ist es gleichgültig, ob dies mit einem Atomkrieg, mit der Zerstörung der Lebensgrundlagen durch Umweltkatastrophen, Genmanipulation oder auf eine andere Weise zustande kommt. Und es ist auch nicht wichtig, wann sich dieser qualitative Umschlag genau vollzogen hat (ob mit Hiroshima oder Tschernobyl). Entscheidend ist nur die Tatsache dieses neuen Zustandes der Selbstvernichtungsmöglichkeit der Gattung. Der Geschichtsdidaktiker Horst Jung hat die Relevanz des Endzeitcharakters für Bildung mit einer Kritik an Adorno dargetan. Dessen Formel von der "Erziehung nach Auschwitz" sei überholt, denn im Fall der fabrikmäßigen Massenvernichtung von Menschen gehe es um zeitweise Außerkraftsetzung von Humanität für einen Teil der Menschheit. Im Fall eines mit Atomwaffen geführten 3. Weltkrieges stehe hingegen das Bestehen der Gattung überhaupt auf dem Spiel. Die Sieger des 2. Weltkrieges haben den Faschismus beseitigen können und einen Neuanfang ermöglicht. Nach einem 3. Weltkrieg wird es keinen Neuanfang geben. Die eigentliche Wende in der Didaktik ist also mit der Formel "Erziehung nach Hiroshima/Tschernobyl" umrissen.
Auch Gorbatschow hat eben jene neue menschheitsgeschichtliche Qualität im Blick, wenn er davon spricht, daß die "Gattungsfrage" primär sei und die "Klassenfrage" dahinter zurückzutreten habe. Man kann sich mit dieser Unterscheidung gut verdeutlichen, welche Forderungen an Bildung bzw. Didaktik zu stellen sind. Die "alten" didaktischen Positionen sind - marxistisch gesprochen - von der Klassenfrage geprägt. Sie haben (in einem sehr groben schematischen Sinn) die Rechtfertigung und Stützung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft zum Ziel oder deren Kritik und Beseitigung. Konservative und emanzipatorische Bildungstheoretiker und -politiker stritten sich bisher nur auf diesem Kampffeld. Hier nun ist ein qualitativer Sprung geboten in die Dimension der Gattungsfrage (ohne natürlich die Klassenfrage fallen zu lassen) der sich auf der Ebene der objektiven Weltsituation durch Problementwicklung und -verdichtung zur möglichen realen Menschheitskatastrophe hin vollzogen hat. Damit soll nicht gesagt werden, daß es nicht von Belang ist, ob die Menschheitsprobleme von einer sozialistischen oder kapitalistischen gesellschaftlichen Basis aus gelöst werden, aber ohne ein Endzeitbewußtsein ist jeder theoretische und politische Streit darüber gefährlich und falsch.
Es scheint nun, angesichts der Erkenntnis, daß ein "Überleben der Menschheit lediglich durch die Anstrengung der Bildung gelingen kann" (Gamm), alles auf eine Didaktik der Schlüsselprobleme (Klafki) hinauszulaufen. So wie in den sechziger und siebziger Jahren eine Erziehung zur Mündigkeit ihre Maßstäbe von "Auschwitz" her erhielt, so heute zusätzlich und übergreifend von "Hiroshima/Tschernobyl" her.

Gleichwohi schlagen wir - oberflächlich betrachtet - paradoxerweise den Terminus "Hedonistische Didaktik" für die von uns angeregte didaktische Offensive vor.
Wir haben ja in der lockeren Skizze unserer Maßstäbe im vierten Abschnitt bereits gezeigt, daß Schüler wissen müssen, wie ein mit Butter belegtes Brot gut schmeckt, wenn sie sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen sollen. Welcher linke Lehrer, der nicht den Fehler gemacht hätte, seine Klasse bis zur Perspektivlosigkeit mit dem Elend des Proletariats zu konfrontieren? Wir nehmen unseren Schülern die Illusionen über Berufsaussichten und Lehrlingsdasein und vermitteln ihnen, wie wichtig eine gewerkschaftiiche Organisation ist, um Abwehrkämpfe zu führen. Wir zeigen ihnen die Lügen der Atomkraftwerksbetreiber und Militaristen. Wir analysieren kritisch "Bravo". "Dallas" und "McDonald's" . . . Genug. Welcher fortschrittliche Lehrer hat nicht schon hier und dort die Erfahrung gemacht, daß unsere Schüler sich den kritischen Inhalten durch Verweigerung entziehen? Wir bemerken, daß wir nicht ankommen, obwohl unsere Schüler uns doch dankbar sein müßten, daß wir ihnen die Augen öffnen!
Vielleicht aber haben wir Schüler, die uns auf die Sprünge helfen und beim Klassentreffen z. B. zwei Jahre nach der Entlassung sagen: "Es stimmt alles, was du mit uns gemacht hast. Und es war auch richtig, daß du uns beigebracht hast, daß wir uns wehren sollen, daß wir kämpfen sollen. Aber du hast uns nie gezeigt, warum es sich zu kämpfen lohnt." Von solcher Kritik hergeleitet, haben wir zwei Positionen, von denen wir aus die herkömmlichen Fachdidaktiken mit ihren Inhalten umkrempeln wollen: die Schlüsselprobleme der Gegenwart und das Kultivieren von Lebensqualität. Mit unserem Terminus "Hedonistische Didaktik" wollen wir nun verdeutlichen, daß die beiden Grundkategorien nicht nebeneinander und auch nicht einfach komplementär zueinanderstehen. Schon gar nicht ist die Erfahrung von lebenswertem Leben zur Entwicklung einer kultivierten Anspruchsmentalität in Kauf zu nehmendes Hilfsmittel, damit unsere Schüler sich endlich der so wichtigen Schlüsselprobleme handelnd annehmen.
Der Hedonismus ist primär. Deshalb nennen wir unseren Ansatz nicht nur "Endzeitdidaktik" oder "Didaktik der Schlüsselprobleme". Zum Verständnis unserer Schwerpunktsetzung hilft es vielleicht, sich in das Bewußtsein unserer heutigen Schüler zu versetzen. Es gehört nur geringe Phantasie dazu, sich den Unterschied zu unserer eigenen Jugendmentalität vorzustellen. Wir waren im Klima des wirtschaftlichen Aufschwungs groß geworden, mit gesicherter Berufsaussicht und im Zuge der antiautoritären Bewegung, der sexuellen Emanzipation, der Neuaneignung des Marxismus, der Bildungsreform, der gewerkschaftlichen Mitbestimmung ... Wie anders sieht es heute aus: Hoffnungslose Verstrickung der Weltwirtschaft im imperialistischen Dauerkrisenzustand (vornehm und euphemistisch "Nord-Süd-Konflikt" genannt), individuell ist mit Dequalifizierung und Arbeitslosigkeit zu rechnen. Rückzugsgefechte bei Gewerkschaften, schrittweise Zerstörung des sozialen Netzes durch Wenderegierungen weltweit, das Sitzen auf mehreren Pulverfässern gleichzeitig (Atomkrieg, Umweltzerstörung ... ), Verschwinden der breiten historischen Perspektive in Gestalt einer internationalen Arbeiterbewegung. Kurz: Für uns war es relativ leicht nach dem Motto "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!" politisch zu handeln. Für unsere Schüler angesichts der Schlüsselprobleme mit Endzeitcharakter liegt der Ausweg der Resignation bzw. des Tanzes auf dem Vulkan nahe.
Da es von der Problembewußtheit zum Handeln- und Kämpfenwollen, den Schritt von der Möglichkeit zur Verwirklichung gibt, kommt diesem Schritt entscheidende Bedeutung zu.
Gerhard Zwerenz hat einmal in einem taz-Artikel zur Mentalität zeitgenössischer Schriftsteller angesichts ihrer Lustlosigkeit im politischen Engagement den Verdacht geäußert, sie seien der Auffassung, diese unsere Welt sei es nicht wert zu überleben. Gleichgültig ob seine Diagnose zutrifft, so legt er doch den Finger auf die Kernfrage politischen Handelns: Um zu kämpfen, muß man das Leben lieben! Man muß sich selbst lieben, Lust am Leben haben! Die Begründung für den Akzent des Hedonismus in unserer didaktischen Offensive ist also ganz einfach: Ein noch so kritisches Bewußtsein von den Problemen ist wertlos, ja sogar diese Probleme selbst verschärfend, wenn man die Auffassung vertritt, die Menschheit sei das Überleben nicht wert. In diesem Sinne kann man zu Recht von der nekrophilen Internationale sprechen, die unsere Welt mit Waffenarsenalen und Atomkraftwerken anfüllt bzw. dies geschehen läßt. Und müssen wir uns nicht gerade angesichts der Endzeitsituation fragen, wieso unsere Schüler tätig Widerstand leisten sollen und nicht in die Passivität des "es hat ja doch keinen Sinn" verfallen müssen?
Das ist eine akademische und so falsche Frage! Da wir nur für Menschen schreiben und Bündnispartner suchen unter denen, die nicht zur nekrophilen Internationale gehören, haben wir die grundsätzliche Antwort uns selbst schon durch unseren Standpunkt gegeben. Sinvoll kann die Frage nicht "Wieso?" heißen, sondern "Wie vermitteln wir unseren Schülern, daß es sich zu kämpfen lohnt?" Oder: "Wie lehren wir unsere Schüler, das Leben zu lieben?" Oder: "Wie erfahren die Schüler Lust am Leben?" Ansonsten verkommt noch so kritischer Unterricht zur resignativer Besserwisserei! Wie freilich durch das gemeinsame Leben und Lernen konkret das "Leben lieben" zu lernen sei, das ist gerade Inhalt unseres Vorhabens "X-Unterricht anders". Hier brauchen wir das Bündnis und die Mithilfe fortschrittlicher Kollegen, die unserer Konzeption folgen und die Lust haben, in das Unternehmen einzusteigen.

Mögliche Einwände:
Einige naheliegende Mißverständnisse wollen wir aber noch ansprechen, ehe wir unseren Plan skizzieren.
Erster Einwand: "Ihr sprecht vom Hedonismus. Mir fällt da Brecht ein, der ja auch in seiner Theaterarbeit und Pädagogik eine Verbindung von Erkenntnis und Genuß anstrebt. Brecht hat mal angemerkt, daß er nicht verstehe, warum linke Schriftsteller immer nur das Elend schildern und nicht die Genüsse, die man hat, wenn man hat. Aber besteht nicht die Gefahr, daß unsere Kinder nur die herrschende Klasse kopieren? Ist nicht eine hedonistische Einstellung der Grund dafür, warum die Menschen so begierig die Millionärswelt von Dallas angucken?"
Das Beispiel "Dallas" taugt vorzüglich zur Verdeutlichung unserer Zielsetzungen. Daran, daß Menschen sich eine materielle Absicherung wünschen ("Geld beruhigt"), ist ja nichts auszusetzen, sondern nur daran, daß ihnen das dargestellte Jetsetleben als erstrebenswert erscheint. Aber dies zeigt nur, daß sie etwas für Lebensqualität halten, was dieses Prädikat nicht verdient. Gerade eine hedonistische Didaktik, die durch konkrete Erfahrungen Schülern einen Begriff vom lebenswerten Leben vermitteln soll, würde sie dazu bringen, dies als minderwertige Lebensform anzusehen. Zudem würde eine hedonistische Didaktik die Serie "Dallas" selbst als billige, geschmacklose Unterhaltung bewerten.
Freilich nicht nach dem Motto "Wir werden ganz böse manipuliert, und da werden falsche, unrealistische Verhältnisse vorgeführt", sondern nach der Maßgabe guten Geschmacks: "Dallas ist langweilig, zu dumm, schlecht gemacht, genügt nicht meinen Unterhaltungsansprüchen!" Die Pointe unserer Eingangsanalyse, daß durch die Entkoppelung von Bildungssystem und Beschäftigungssystem Schule Zeit hat, die Modellierung von Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu stellen, bezieht sich auf die Tatsache, daß Lust nicht a priori vorhanden und jede Lustform gleichwertig ist, sondern gelernt werden muß und kann. Dies ist ja gerade eine der großen Versäumnisse unseres Schulsystems, keinen Begriff eines anspruchsvollen Lebens zu vermitteln.
Zweiter Einwand: "Wie soll bei eurem Ansatz Solidarität, z. B. mit den hungernden Menschen der 3. Welt entstehen? Wie begegnet ihr der Gefahr eines hemmungslosen Egoismus?" Zunächst einmal zeigt eine Vorüberlegung, die mit lustvollem Leben im eigentlichen Sinne noch nichts zu tun hat, daß eine Sichtweise vom einschränkenden, unangenehmen Charakter der Solidarität nicht notwendig ist. Anders gesagt: Eine eigenständige Mitleidshaltung gegenüber Armen ist überflüssig. Da der Mensch ein Kollektivwesen ist und die gesellschaftlichen Werte arbeitsteilig und arbeitszusammenfassend (einschließlich des Produktionsmomentes "Kollektivkraft") erzeugt werden, ist Verteilungsgerechtigkeit vemünftig. Schon allein deshalb, weil man beim Leben auf Kosten anderer oder gleichgültig gegen andere Gefahr läuft, den Schädel eingeschlagen zu bekommen oder mit in den Vernichtungsstrudel gerissen zu werden. Konkreter gesprochen: Wenn die südafrikanischen Weißen die Apartheid nicht abschaffen, riskieren sie über kurz oder lang ihren physischen Untergang. Bei der weltweiten Verflochtenheit der Volkswirtschaften, birgt die weitere Verschuldung der 3. Welt eine Finanzkrise, die auch die großen imperialistischen Länder nicht verschonen wird. In diesem Sinne gebietet das Eigeninteresse die Solidarität und bedarf nicht einer eigenständigen puritanischen Moral. Freilich kann man bei einer solchen Solidarität der Vernunft nur insofern von Hedonismus sprechen, als Beeinträchtigungen (reale oder auch psychische in der Form schlechten Gewissens) abgewehrt werden.

Wir möchten einen Schritt weiter gehen. Zu diesem Zweck kehren wir einen Moment zur bildungstheoretischen Didaktik zurück, in deren Tradition ja auch unser hedonistischer Ansatz steht. "Bildung" bedeutet hier gerade nicht, ihren Wert zu erhalten im Hinblick auf berufliche Karriere und gesichertes Einkommen, sondern als Persönlichkeitsentwicklung. Bildung ist Wert an sich. Dabei wird eine neuzeitliche Wertvorstellung in Anspruch genommen, die mit dem modernen Individualitätsbegriff zusammenhängt. In früheren Gesellschaften ging der Wert eines Menschen auf in seiner sozialen Funktion (ein guter Bauer, Handwerker, Richter, Soldat, Herrscher zu sein). Individuelles Glück war Nebenprodukt der gesellschaftlichen Rolle. Dagegen muß man als Errungenschaft der modernen Subjektkonzeption ansehen, daß die Selbstverwirklichung oberstes Ziel des Lebens geworden ist. Allerdings recht verstanden nicht nur als Auslebenkönnen der individuellen Möglichkeiten, sondern zugleich als Ausbildungsprozeß des jeweiligen Ichs. Mit dem Konzept moderner Subjektivität ist nämlich das Ideal einer Ausgestaltung der individuellen Charakterstruktur zu jeweils höheren Stufen gegeben. Solche Ausbildung des Selbst meinen wir mit "Modellierung der Bedürfnisstruktur" und mit "Entwickeln von Lebensqualität". Dieses "Sich-selbst-Übersteigen" zu einer höheren Stufe der eigenen Entwicklung muß man als Selbststeigerung sehen, und man kann sagen, daß Bildung sich von Dressur durch eben dieses Moment der Selbststeigerung unterscheidet.
Wer wollte nun leugnen, daß es sich bei solcher Selbststeigerung um einen lustvollen Vorgang handelt? Bildungstheoretische Didaktik ist mithin, selbst wenn sie es nicht so explizit formuliert hat, hedonistisch. Lernen und Erkennen der Welt und des Selbst muß man wohl als Privileg betrachten, so daß ein wenig beachteter Vorteil des Gymnasiums gegenüber zu gleicher Entwicklungszeit im Beruf stehenden Menschen darin besteht, Zeit und Muße zu haben, den Horizont zu erweitern und die eigenen Bedürfnisse zu entwickeln. Daß dieses Privileg von unsinnigen Paukanforderungen wieder eingeschränkt wird, steht auf einem anderen Blatt.
Die Tatsache der genußvollen Selbststeigerung im Bildungsprozeß wird leicht durch das gesellschaftlich gängige, konsumorientierte Lustkonzept verdunkelt, das zum Modell die Situation hat, sich mit viel Geld in einem großen Warenhaus alles leisten zu können. Eine hedonistische Didaktik soll gerade Schülern zeigen, auf welch niedriger Genußstufe sich der Warenhauskonsument befíndet.
Zudem - und darauf kommt es jetzt entscheidend an - trichtert unsere Konkurrenzgesellschaft ihren Mitgliedern von klein auf ein, daß Selbststeigerung nur auf Kosten anderer erreicht werden kann. Aber auch dies ist keine notwendige Lustkonzeption. Abgesehen davon, daß es ein freudiges Abgeben aus Überfluß geben kann, nötigt die fortschreitende Verdichtung der Welt zu einem Weltbürgerbewußtsein. Angesichts der Verflochtenheit der Weltteile ist "wahrer Genuß", den sich zu erlernen die hedonistische Didaktik zum Ziel setzt, nur mit einer Gattungsperspektive zu erlangen. Mehr noch: Wenn das Schlüsselproblem heute in der Selbstvernichtungsmöglichkeit der Gattung besteht, so ist die Kollektivwesenhaftigkeit des Einzelmenschen nicht mehr national oder klassenmäßig beschränkt, sondern hat Gattungsdimension. Die Auseinandersetzung läuft dann zwischen den Menschen, die das Leben lieben, und der nekrophilen Internationale.
Wenn man die Biographien antifaschistischer Widerstandskämpfer liest, stößt man auf das vordergründig eigenartige Phänomen, daß sich Menschen aus Liebe zum Leben in einen kurzfristig aussichtslos scheinenden Kampf begeben haben. Der Titel einer Autobiographie des Osnabrücker Antifaschisten Ludwig Landwehr lautet ". . . interessant war's eigentlich immer!" Er ist nur beim ersten Hinsehen widersinnig. Ihm zugrunde liegt nämlich ein Bewußtsein von Lebensfreude, die daher rührt, mit dem politischen Engagement einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschheit geleistet zu haben. Das Bewußtsein, Teil der Gattungstendenzen zu sein, die eine bessere Welt anziehen, ist lustvoll. Es geht in einer hedonistischen Didaktik um die Entwicklung dieses Anspruchsniveaus von Lust.


6. Unsere didaktische Offensive stellen wir nicht zur Disposition. Wir wären sogar traurig darüber, wenn über die hedonistische Didaktik ein akademischer Streit entbrennt und die Seiten von Zeitschriften oder Büchern füllt. Gewiß läßt sich noch einiges korrigieren, anreichern, anders gewichten, gibt es Möglichkeit zur Detailkritik. Uns scheint es aber müßig, damit die Zeit hinzubringen. Denn erfahrungsgemäß läuft eine derartige Präzision am fruchtbarsten im Zuge der Konkretisierung. Das bedeutet eine Einladung zur Mitarbeit. Wir haben dabei schon darauf hingewiesen, daß wir einen Weg über Universitäten, fachdidaktisches Räsonnement und staatliche Lehrplankommissionen nicht für sinnvoll halten. Die Interessenlage innerhalb der Kultusbürokratie ist unserem Vorhaben nicht günstig. Wir bevorzugen den Weg über den fortschrittlichen Einzellehrer, dem wir konkrete Alternativmaterialien in die Hand geben wollen.
Unsere Aufgabe ist also, gemäß den allgemeindidaktischen Maßgaben dieses Aufsatzes, für jedes Fach Unterrichtseinheiten und -vorschläge zu entwickeln. Wobei "entwickeln" nicht nur Neukonstruktion meint, sondern auch die Sammlung von Einheiten, Projekten, Ideen usw., die der Maßgabe einer hedonistischen, an Schlüsselproblemen orientierten Didaktik folgen.

Da in jedem Fach wahrscheinlich eine eigenständige fachdidaktische Alternative entwickelt werden muß, geben wir als Beispiel nur den geplanten Weg für das Fach "Geschichte". Ziel ist ein "Handbuch des Geschichtsunterrichts" (Arbeitstitel), in dem leicht umsetzbare Unterrichtseinheiten veröffentlicht werden. Dazu kommt eine praxisorientierte Einführung ins Fach für Junglehrer, ein Überblick über wichtige Handbücher, Zeitschriften, Bezugsadressen, Tips, exemplarische Projektideen, Spiele, Einzelstunden usw. Eine genaue Inhaltsplanung legen wir nicht vor, weil wir diese sich aus dem vorliegenden Material und aus den Vorarbeiten ergeben lassen. Diese Vorarbeiten werden sein:

  1. Ein alternativer Geschichtslehrgang in Form von kopierfähigen Arbeitsblattmappen. Zielgruppe ist dabei die Sek 1, Hauptschule;
  2. Mappe "Die schönsten Geschichtsstunden" (Sammlung von Einzel- bzw. Vertretungsstunden);
  3. Neufassung des AOL-Bücherbriefes "Geschichte";
  4. Sammlung von themen- und problemorientierten UEs;
  5. Sammlung von Unterrichtsprojekten;
  6. Sammlung von Freiarbeitsanregungen.

Soweit ein kurzer Uberblick für ein spezielles Fach. U. E. sollten sich für jedes Fach Arbeitsgruppen zusammenfinden, die über einen Zeitraum von 2-3 Jahren ein derartiges Handbuch mit dem Titel "X-Unterricht anders" entwickeln. Detaillierte Veröffentlichungen in Zeitschriften oder als Arbeitsblattmappen sollten den Vorlauf bilden, ebenso jeweilige Bücherbriefe, so daß die Handbücher Ernte und konzentrierten Extrakt bilden.

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