Reformpädagogik

ohne Reformierung der Curricula

ist perspektivlos

Manfred Huth

In: Annegret Sloot / Uwe Nordhoff (Hg.): Den Kindern das Wort geben. Reformpädagogik verändert die Schule.
Praktische Versuche und theoretische Standortbestimmung. Soltau: Schulze-Soltau 1994. S. 19-24.

Der Frage nach Reformierbarkeit der gegenwärtigen Schule möchte ich mich dannähern durch Bezug auf das Motto der Veranstaltung "Den Kindern das Wort geben". Empirisch erhobene SchülerInnenkritik - ich beziehe mich auf die Arbeiten von Sochatzy (1988) und Czerwenka (1990) - kann mensch auf den Punkt bringen:

SchülerInnen meinen, Schule wird ihren Zukunftsinteressen nicht gerecht, d.h. die Schule bereitet in keiner Weise auf die Zukunft vor: weder auf die Anforderungen der modernen Arbeitswelt noch auf das zukünftiges Leben. Ausbildungspropädeutisch und existenziell-politisch hat Schule der SchülerIn nichts zu bieten - das ist durchgängiger Tenor.

Schule hat diese beiden Bildungsansprüche schon sehr lange nicht mehr hat, wahrscheinlich hat sie diese überhaupt nie erfüllt. Es ist nur nie so aufgefallen wie in der gegenwärtigen Situation. Denn Schule war bis vor etwa zwanzig Jahren ZertifikatsvergeberIn für berufliche Zukunftschancen - Inhalte und Stoffe, die dem Zweck der Auslese dienten, waren beliebig und den SchülerInnen relativ egal. Motto: Gelernt für das Abschlußzeugnis wird jeder Unsinn, wichtig und interessant für das spätere Leben ist das Abschlußzeugnis. Und jedes Abschlußzeugnis garantierte in der Restaurationsphase der BRD jeder SchülerIn eine befriedigende Zukunftsperspektive - zumindest an materiellen Maßstäben gemessen!

Diese Funktion der Zertifikatsvergabe und Zugangseröffnung zur Berufswelt hat heute allenfalls noch das Gymnasium.

Welche gesellschaftlichen Veränderungen haben zu diesem traditionellen Funktionsverlust der Schule geführt?

Wenn ich an meine Schulzeit und meine Wahrnehmung der mich umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit und meine Zukunftspläne denke, dann gibt es gravierende Unterschiede:

*die drängenden Epochenprobleme (Ökologie, Frieden, Leben in einer Welt,..) die den den Horizont auch junger Menschen verdüstern und unter diesen besonders

*die Massenarbeitslosigkeit und der damit verbundene drohende Abstieg ins untere Drittel der Zweidrittelgesellschaft

Für die Schule bedeutet das: Schulische Zeugnisse sind nicht mehr Garant für eine relativ abgesicherte Zukunft! Die gegenwärtige Situation an der Hauptschule verdeutlicht das vielleicht am deutlichsten: jede HauptschülerIn weiß sehr genau, daß sie vom Leben in dieser Gesellschaft nichts zu erwarten hat und zum letzten Drittel der Gesellschaft gehört. Auch die uns allen gut bekannte Zensurenpeitsche fruchtet hier nicht mehr, da das Hauptschul-Abschlußzertifikat nicht den Aufstieg in die oberen Zweidrittel garantiert.

Wegen dieses Funktionsverlustes der Schule bzw. der Schulzeugnisse merken SchülerInnen eher, daß die gelehrten Inhalte sowie die verwendeten Methoden nicht ihren Bedürfnissen entsprechen, daß sie sinnloses oder unbrauchbares Zeug lernen und sie begehren dagegen auf bzw. reagieren mit Verweigerung und "0-Bock".

Der Leidensdruck der KollegInnen an der Hauptschule ist so groß geworden - traditioneller Unterricht ist an dieser Schulform, insbesondere in den Metropolen, gar nicht mehr durchführbar - dass sie sich einfach etwas anderes einfallen lassen mußten, dies auch taten und tun einschließlich eigenständiger "Curriculumrevision von unten" mit stillschweigendem Einverständnis der Kultusbürokratie, die froh ist, wenn Unterricht überhaupt abläuft an dieser Schulform für den gesellschaftlichen Rest.

Daraus folgt: Es wird nicht mehr blind alles gelernt, denn das Zuckerbrot der Schulabschlüsse und auch die Zensurenpeitsche haben keine oder nur begrenzte Wirkung mehr. Schule muß auf die Bedürfnisse der SchülerInnen nach Sinn eingehen, was heißt: die Lehrpläne vom Kopf auf die Füße stellen. "Übermittlung, bei der der Lehrer als Übermittler fungiert, führt Schüler dazu den mitgeteilten Inhalt auswendig zu lernen. Noch schlimmer aber ist es, daß sie dadurch zu Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. gemacht werden, zu Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden., die vom Lehrer Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. werden müssen. Je vollständiger er die Behälter füllt, ein desto besserer Lehrer ist er. Je williger die Behälter es zulassen, umso bessere Schüler sind sie. So wird Erziehung zu einem Akt der Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden., wobei die Schüler das sind, der Lehrer aber der Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.." Dem Bankier-Konzept setzt Freire entgegen das Konzept der Theorieentfaltung aus der Praxis: "Man muß da anfangen, wo die Lokalität der Person ist, man muß von hier und heute, von der Umwelt ausgehen und von da aus den Verständnisprozeß ausweiten. (...) Ich muß meine Erfahrung dort machen, wo ich lebe, und dann ein immer größeres Verständnis für die Dinge bekommen, bis ich eben zu dieser Universalität gelange." Freires Gedanken und die der Projektpädagogik zugrundeliegenden Ideen haben dieselben Wurzeln:

*selbständiges Lernen in Kollektiven

*interessenbezogene Selbstbestimmung der Lernkollektive

*handelnde Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit

*Bewältigung und Verbesserung der Lebenswirklichkeit

Nach diesen Wesensmerkmalen des engeren Projektbegriffs definiert auch eine von uns durchzuführende Reformierung der Schule.

Öffnung des Unterrichts ist eine Antwort auf die immer sichtbarer werdenden Schwächen traditionellen Unterrichts, Befreiung aus dem einengenden Korsett durch eine stärkere Einbeziehung des SchülerInnensubjekts in die Unterrichtsdurchführung. Ohne Frage ein Fortschritt und ohne Einschränkung zu bejahen, aber auf keinen Fall darf offener Unterricht mißverstanden werden als Allheilmittel für alle Probleme der Schule. Blättert mensch einzelne Bücher und Materialien für offenen Unterricht genauer durch, fällt als erstes auf die Fülle methodischer Hinweise und Tips zur Arbeit in der Schule - ohne Zweifel eine wichtige Sache, gegen die niemand etwas einwenden will - Inhalte werden aber, auch in eher theoretisch-grundsätzlichen Abhandlungen über offenen Unterricht, kaum thematisiert bzw. spielen eine untergeordnete Rolle.

Nun spricht nichts dagegen, wenn sich LehrerInnen mit methodischen Fragen beschäftigen - im Gegenteil es ist sehr erfreulich, denn es gab Zeiten, da wurden die Methoden zu wenig beachtet. Was erstaunt, ist die oft euphorische Rezeption und die Verabsolutierung der Methodenfrage als Allheilmittel gegen Schulunlust und -frust . M.E. ist dies eine Illusion und spiegelt eher allgemeine gesellschaftliche Orientierungslosigkeit wider.

Dominieren bei der Schularbeit methodische Überlegungen und tritt die Inhaltsfrage zurück, geraten Bildung und Erziehung ins Beliebige. Methodische Betriebsamkeit aber dient allenfalls als Krücke, um den Sinn- oder Funktionsverlust der heutigen Schule zu kompensieren und die SchülerInnen eine Weile zu beschäftigen. Und SchülerInnen durchschauen das sehr schnell. Realbegegnung, Anknüpfen an die SchülerInnenerfahrungen, an die Lebenswirklichkeit sowie das Bemühen um's Konkrete - alles richtig, bloß darf dabei nicht die wichtigste Frage ausgespart werden:

Mit welchem Ziel stellen wir die Nähe zur Lebenswirklichkeit her? Allein diese Frage entscheidet darüber, ob wir entwirklichen (verdummen und ruhig stellen) oder wirken (kritisches Bewußtsein bilden, Ansprüche vertreten und durchsetzen).

Was in der Grundschule funktioniert und auch seinen Sinn hat, nämlich das Lernen von Kulturtechniken (wobei eben sehr viel geübt werden muß) durch Freiarbeit und indiviualisiertes Arbeiten zu vermenschlichen, hilft allein aber nicht bei Veränderung und Überwindung der sinn- und funktionslosen Schule allgemein.

Damit niemand mich falsch versteht: Auch ohne den Verabsolutierungsanspruch verändert offener Unterricht das schulische Lernen in Richtung auf Individualisierung, was konsequent durchgeführt eine Vermenschlichung der Staatsschule zur Folge hat - und das bedeutet schon sehr viel.

Das Zentralproblem der gegenwärtigen Bildungskrise und das Zentrum einer Revision sind aber die Curricula, die Lerngegenstände. Um Schule Sinn zu geben, sie auf ihre humane Aufgabenstellung zurückzuführen, müssen die Bildungsinhalte einer radikalen Kritik unterzogen werden:

Entrümpelung des Gesamtcurriculums und der Lehrpläne von Sinnlosem und Anreicherung mit existenziellen, humanen Inhalten - das ist Ziel und Wesen einer Reformierung des Schulwesens ... einer grundlegenden, revolutionierenden Umgestaltung der heutigen Schule .

Zum Schluß möchte ich "den Kindern das Wort geben". Die AOL hat in SchülerInnenzeitungen und Jugendzeitschriften SchülerInnen um Stellungnahmen über Schule und Bildung erbeten. Über 200 Zuschriften haben wir ausgewertet und die Ergebnisse veröffentlicht . Zwei kurze Auszüge aus zwei Zuschriften:

"Ist es denn wirklich wichtig zu wissen, aus welchen »Stoffen« der Chitinpanzer der Insekten besteht? Oder wie die Hyphen eines Pilzes aufgebaut sind? Doch wohl wirklich nur für Leute, die später sowieso Biologie studieren, oder? Es fehlt das Thema »Umwelt«!! (...) Auch sollten Arbeitsgruppen geschaffen werden, die Aktionen machen (z.B. Unterschriften sammeln, Tips bezüglich Umweltschutz geben, Geld sammeln für Umweltorganisationen,...). Solche Themen fehlen anunserer Schule (fast) völlig." (Nicole, 9.Klasse, Gymnasium)

"Ich finde, bis zur 8. Klasse bekommt man sogut wie gar nichts von der Welt mit. Ich finde, ab der 5. Klasse müßte man ein Fach erfinden, wo man mehr von der Realität mitbekommt, eben das Fach »Real« wie Realität."

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Anmerkungen:

(1) K. Czwerwenka u. a.: Schülerurteile über die Schule. Bericht über eine internationale Untersuchung. Frankfurt/Berlin/New York/Paris: Verlag Peter Lang 1990. - K. Sochatzky: "Wenn ich zu bestimmen hätte..." Die Erwachsenenwelt im Spiegel von Kindern und Jugendlichen. Eine empirische Bestandsaufnahme. Weinheim: Beltz 1988.

( ) Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek: Rowohlt 1973. S. 57.

( ) Paulo Freire: Schule und Entwicklung. Rede auf dem Bildungkongreß des World University Service (WUS) "Der Nord-Süd-Konflikt - Bildungsauftrag für die Zukunft", Köln 1991. In Freire-Brief 50/1991, S. 12.

( ) Vergl. Manfred Huth: 77 Fragen und Antworten zum Projektunterricht. 2. völlig überarb. und ergänzte Aufl. Lichtenau: AOL-Verein u. AOL Verlag 1993. - Gerhard Jürs u.a.: Projekte an Hamburger Schulen. 6.Aufl. Hamburg: Selbstverlag 1990. - Horst Stubenrauch: Projektorientiertes Lernen im Widerspruch des Systems. In: Projektorientierter Unterricht. Lernen gegen die Schule. Hg. v.d. Redaktion betrifft:erziehung. Weinheim u. Basel 1976. S. 9-15. - Berhard Suin de Boutemard: 75 Jahre Projektunterricht. In: Ebd. S. 58-64.

( ) Vergl. Horst Bartnitzky (Hg.): Auf dem Weg zum differenzierten Schulalltag. Rahmenbedingungen - Grundsätze - Beispiele. Ergebnisse des Mülheimer Grundschultages 1982. Frankfurt: Arbeitskreis Grundschule 1983. - Hildegard Kasper / Arno Piechorowski (Hg.): Offener Unterricht an Grundschulen. Ulm: Vaas Verlag 1978. - Wulf Wallrabenstein: Offene Schule - Offener Unterricht. Ratgeber für Eltern und Lehrer. Reinbek: Rowohlt 1991.

( ) S. ausführl. Manfred Huth: Innere Schulreform als methodische Runderneuerung. Kritisches zum Offenen Unterricht und anderen »Heilmitteln« In: Bethge/Gondermann/Huth (Hg.): Bildungsreform 2000. Hamburg: Ergebnisse Verlag 1989. S. 109-114.»

( ) Die AOL hat mit der Hedonistischen Endzeitdidaktik eine Analyse der gegenwärtigen Bildungskrise vorgelegt sowie ein der gegenwärtigen Situation adäquates Gesamtcurriculum entwickelt, vergl.: Manfred Huth /Christoph-Joachim Schröder: Hedonistische Endzeitdidaktik. Bildung und Unterricht nach Hiroshima und Tschernobyl - Vorschlag für eine didaktische Offensive. In: demokratische erziehung 12/1987, S. 15-21. - Dies.: Hedonistische Endzeitdidaktik. Das Curriculum für das Jahr 2000. In: Bethge / Gondermann / Huth (Hg.): Bildungsreform 2000. Hamburg: Ergebnisse-Verlag 1989. S. 67-78.

( ) Manfred Büttner (Hrsg.), Schule heute - neue Didaktik. Neuwied/Berlin: Luchterhand Verlag 1991, S. 90 - 107.

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